7. September, 14 Uhr 19

Ich habe den Rat von Maas befolgt. Ich bin zurück in der Wohnung, endlich wieder ganz allein. Ich habe keine Worte mehr mit ihm gewechselt, war tapfer. Meine Maske ist nicht verrutscht.

Gerade in den Spiegel geschaut, die Befürchtungen der vergangenen Tage und Stunden haben sich addiert, sie wirken wie Hundejahre. Ich bin merklich gealtert. Falten kamen scheinbar über Nacht, ich habe mich verändert. Nicht nur äußerlich. Meine Seele fühlt sich anders an. Was Verdacht war, hat sich jetzt bestätigt: Ich bin nicht normal. Mein Gesicht erkenne ich wieder, aber ich misstraue diesen Augen.

Ich schau mich an, und muss mich fragen, ob ich ein Mörder bin. Ich hoffe nein. Ich denke ja. Ich habe kein Haar gekrümmt. Doch bin >>> weiterlesen

7. September, 19 Uhr 12

 Die ganze Euphorie war verflogen, als ich vor der Haustür stand. Keine Ehrfurcht vor mir, keine Angst. Die Passanten waren wie immer.

Ich war mittags tatsächlich im Kino, allein. Hat Überwindung gekostet. Den Longdrink habe ich mir dann doch nicht gebastelt, das war mir ohne Begleitung zu peinlich. Was wäre wenn sie mich entdeckt hätten? Ich wäre wahrscheinlich im Boden versunken. Nachdem ich mich damit Abgefunden habe, der Einzelgänger in der Vorstellung zu sein, war es ganz cool. Mir wurde nur abermals klar, dass ich mir die negativen Gedanken abgewöhnen muss. Nicht jeder ist immer gegen mich oder denkt das Schlimmste von mir. Vielleicht bewundern mich die Leute, weil ich so selbstbewusst bin und alleine ins Kino bin. Von meinem >>> weiterlesen

8. September, 9 Uhr 52

Uff, das war ein Morgen. Also, wo fange ich an? Erstmal: Ich sitze jetzt wieder im Kiosk und gehe meiner gewohnten Tätigkeit nach. Wie eine Maschine: Zigaretten schieben und Lottoscheine annehmen. Es lässt sich daraus schließen: Das Kiosk wurde nicht in die Luft gesprengt. Überraschung! Der Bombenalarm war ein Finte. Das Viertel ist sicher.

Als ich zu Schichtbeginn angekommen bin, hat mich der alte Maas empfangen. Ich hatte ziemlichen Bammel davor, was mich jetzt erwarten würde. Da ich jeglichen Kontakt mit der Polizei vermeiden wollte, habe ich gestern einen sprichwörtlichen Bogen um das Kiosk gemacht, und bin über die Querstraßen ausgewichen. Heute war also der große Tag.

Wie gesagt, Maas war schon da. Ungewöhnlich, normalerweise kommt er nur zum Feierabend, >>> weiterlesen

8. September, 15 Uhr 27

Ulli war wieder eine Aufheiterung. Heute hätte ich sie zwar nicht gebraucht, aber besser als gut ist immer willkommen – besonders bei der Laune. Klar, er war ganz neugierig, was da alles passiert ist, mit den Bomben und so. Er hat mich ein bisschen ausgequetscht. Ich habe versucht die ganze Geschichte ein wenig herunterzuspielen. Aber der gute Mann war Feuer und Flamme. Als er den Artikel im Karlsruher Morgen gelesen hat, ist er ein bisschen in einen Agententhriller abgetaucht: „Man könnte da ja mal ein bisschen spionieren und die Nachbarn aushorchen.“ Ich habe zu ihm gemeint, dass er gerne Ermittlungen aufnehmen kann. Er sollte bloß aufpassen. Der Tatendrang war schnell verflogen, als wir philosophierten, welche Konsequenzen fürchten müsste. Auch heute >>> weiterlesen

8. September, 16 Uhr 47

Ich habe meinen Platz geräumt. Es wurde doch zu peinlich. Die Mädchen haben schon über mich gekichert. Wie früher: Die Anführerin sagt was, die anderen gucken, dann wird gelacht. Ich will gar nicht wissen, was die an mir auszusetzen haben. Ich befürchte, dass die Kinder irgendwelche Schnappschüsse von mir gemacht haben. Ich hätte am liebsten meine Faust geschwungen wie ein meckernder Opa. Habe mich aber für den stummen Rückzug entschieden. Meine Fotos sind mittlerweile bestimmt viral und der Brüller in den sozialen Netzwerken – welche auch immer bei den Jugendlichen derzeit aktuell sind. Ich habe schon überlegt, ob ich der Rädelsführerin die Hand geben soll… aber es sind doch nur Teenies. Gott, ich werde alt und verbittert, wenn ich nicht >>> weiterlesen

8. September, 17 Uhr 39

Letzte Station für heute, aber hier ist immerhin mächtig Tumult: Karlsruher Hauptbahnhof. Das Gebäude wirkt so ausladend, kalt und grau, da kann man nur schlechte Laune bekommen. Hier fühle ich mich wohl.

Die Leute sind schon interessant. Die eine Hälfte dürften Berufspendler sein. Die andere Hälfte teilt sich dann in Fernreisende und Untersatz der Unterschicht. Bahnhöfe ziehen die ganzen kleinkriminellen Motten an wie Licht – selbst wenn sie so schlecht ausgeleuchtet sind, wie dieser. Das ist bei jedem einzelnen Bahnhof so. Wieso diese Freaks nicht in den Schlossgarten gehen und wenigstens ein wenig Sonne tanken, kann ich mir nicht erklären. Ich hoffe, ich sehe wie ein Reisender aus. Mir ist gar nicht danach von der Polizei kontrolliert zu werden. Hier >>> weiterlesen

9. September, 9 Uhr 37

Gestern Abend kam noch eine Nachricht von Anna. Sie hat gefragt, ob ich Zeit zum Quatschen hab. Genügend Zeit habe ich leider immer. Zu Anna meinte ich, dass ich mir für sie immer Zeit nehmen würde, ich alter Schleimer. Also hoch gestiefelt, im Gepäck wie üblich ein wenig Alkohol. Das ist Zeitvertreib, Eisbrecher und Begrüßungsgeschenk.

Anna wollte reden. Und Junge, das tat sie. Es zeigt sich immer mehr, dass Anna sehr gerne spricht und den Dingen in langen Diskussionen auf den Grund gehen möchte. Auch wenn alles glasklar ist und man den Boden trotz tiefem, stillem Wasser sieht. Sie ist ein echtes Goldstück, aber was das Quatschen angeht, ist sie aus Silber gegossen.

Grund des Gesprächs: Sie hat mich gestern >>> weiterlesen

12. September, 19 Uhr 33

Gestern und vorgestern ist wenig passiert. Jedenfalls nichts, dass die Mühe verdient, hier festgehalten zu werden.

Immerhin kamen mir noch ein paar Ideen, wie ich fremde Leute anfassen kann. So habe ich stets jemanden in der Hinterhand, dessen Verlust ich verschmerzen kann. Sie haben was verloren = am Arm berühren, Uhrzeit? = Handgelenk. Eine milde Gabe = Handfläche. Taschentuch, bitte = Finger. Ganz einfach ist irgendwas kaufen. Etwas verrückter ist anrempeln. Übung bräuchte es, jemand unbemerkt zu berühren. Das hat beinahe Taschendieb-Niveau. Das sollte lediglich die letzte Möglichkeit sein.

Ich bin erleichtert, die Verantwortung Anna gegenüber scheint lösbar. Ich setze sie also keiner Gefahr aus. Die letzten Tage war sie übrigens wieder entspannter, obwohl ich viel allein unterwegs war. Die >>> weiterlesen

13. September, 19 Uhr 39

Heute war ich voller Sommergefühle. Vormittags habe ich eine ruhige Kugel geschoben, keine Sisyphusarbeit. Der Knaller war, dass der alte Maas zwei mal vorbeikam und sich nach mir erkundigt hat. Und mich (ich kann kaum glauben, dass ich diese Worte schreibe) gelobt hat. Er meinte, dass ich ein guter Arbeiter bin. Und ich hier eine Zukunft habe. War sicher nett gemeint. Aber ob ich bis an mein Lebensende Kioskwärter sein möchte, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht ist er in mich verliebt oder will mich adoptierten. Ich wüsste, wie ich ihn einfach aus dem Weg räumen könnte. So ein Kiosk-Imperium zu erben, würde ich mir gefallen lassen.

Mittags haben wir, Anna und ich, uns einen schönen Tag gemacht. Ich habe an >>> weiterlesen

14. September, 10 Uhr 19

Ich bin in der Stimmung, mir hier und jetzt einen hinter die Binde zu kippen. Einen besonderen Grund gibt es nicht, den brauch ich zum Saufen auch nicht. Aber die Zeit bis Feierabend würde bestimmt schneller vergehen. So ein bisschen Bewusstseinserweiterung hat noch nie geschadet. Ich weiß nicht so recht, was mich eigentlich davon abhält. Geschäftsfähig bin ich auch mit ein paar Promille. Der gute Maas würde mir wohl noch auf den Rücken klopfen und meinen, dass ich mir das verdient habe. Bei dem habe ich schließlich einen Stein im Brett, nachdem ich ihm so mutig beigestanden habe. Nun ja, da ich mich eh nicht überwinden kann, hier heimlich zu schlürfen, wie mein alter Physiklehrer aus seinem Flachmann, gehen wir >>> weiterlesen