8. September, 15 Uhr 27

Ulli war wieder eine Aufheiterung. Heute hätte ich sie zwar nicht gebraucht, aber besser als gut ist immer willkommen – besonders bei der Laune. Klar, er war ganz neugierig, was da alles passiert ist, mit den Bomben und so. Er hat mich ein bisschen ausgequetscht. Ich habe versucht die ganze Geschichte ein wenig herunterzuspielen. Aber der gute Mann war Feuer und Flamme. Als er den Artikel im Karlsruher Morgen gelesen hat, ist er ein bisschen in einen Agententhriller abgetaucht: „Man könnte da ja mal ein bisschen spionieren und die Nachbarn aushorchen.“ Ich habe zu ihm gemeint, dass er gerne Ermittlungen aufnehmen kann. Er sollte bloß aufpassen. Der Tatendrang war schnell verflogen, als wir philosophierten, welche Konsequenzen fürchten müsste. Auch heute wird er wieder seinen gewohnten Gang gehen. Zu den Enten und wieder zurück. Er hat mich mal wieder eingeladen. Irgendwann, Ulli, irgendwann. Danach hatte ich auch schon fast Feierabend.

Zuhause bin ich jetzt nicht. Den Heimweg habe ich nicht geschafft. Ich kann mir gar nicht erklären, was da genau los war. Es ging einfach nicht. Ich bin zwar Richtung daheim gelaufen, doch kurz vor der Haustür hat sich ein kleiner Panikanfall angekündigt. Blutdruck, erhöhter Puls, zittrige Hände, Schweissperlen auf den Schläfen, die runter zum Kiefer rannen.

Ich denke mal, ich fürchte mich unterbewusst vor der Zeit allein. Wahrscheinlich würde ich mir dann nur Vorwürfe wegen den Todesopfern machen. Seelenstrip: Um ehrlich zu sein, habe ich Angst vor meinen Gedanken. Oder nicht vor den Gedanken, sondern wie ich mit dieser Situation nun umgehen soll. Ich will schlicht nicht groß darüber nachdenken. Zuhause wäre ich gefangen. Vom Fernseher berieseln zu lassen, ist nur mäßig erfolgreich, wenn man sich ablenken will. Von Alkohol berauschen lassen, ist mir gerade zu deprimierend. Ich wäre froh, wenn ich zu Anna könnte, aber die ist noch in der Uni.

Heimgehen ging nicht, also bin ich schnurstracks vorbei und weiter und weiter gelaufen wie Forrest Gump. Nach einer guten dreiviertel Stunde war ich in der Stadt, und soweit wieder beruhigt, dass ich an der Gesellschaft teilnehmen konnte ohne unangenehm aufzufallen. Jeder Schritt weg von meiner Wohnung war wie ein Ommm, sehr beruhigend.

Dann kam der mittägliche Hunger. Da hab ich kombiniert wie Sherlock Holmes: in die Burgerbude hocken. Gar nicht so übel. Draußen ist es kalt, mir tun die Füße weh und hier gibt es reichlich Unterhaltung. Das Publikum erinnert an Trash-Dokumentationen aus der Glotzbox. Ich würde die Leute hier gerne von oben herab betrachten, aber im Endeffekt mach ich auch nichts anderes als Herumlungern. Das Tablett und die zerknüllten Papiere sind meine Aufenthaltsberechtigung. Hier seht, ich habe etwas gekauft, ich darf hier sein und euch begaffen. Ich werde auch die letzten Minuten gammeln ausnutzen, um nicht heim zu müssen. Dort erwartet mich nicht nur das altbekannte Bühnenbild. Es steht eine Wiederholung vom gefürchteten Schauspiel an: Saufen, Grübeln, Saufen.