7. September, 14 Uhr 19

Ich habe den Rat von Maas befolgt. Ich bin zurück in der Wohnung, endlich wieder ganz allein. Ich habe keine Worte mehr mit ihm gewechselt, war tapfer. Meine Maske ist nicht verrutscht.

Gerade in den Spiegel geschaut, die Befürchtungen der vergangenen Tage und Stunden haben sich addiert, sie wirken wie Hundejahre. Ich bin merklich gealtert. Falten kamen scheinbar über Nacht, ich habe mich verändert. Nicht nur äußerlich. Meine Seele fühlt sich anders an. Was Verdacht war, hat sich jetzt bestätigt: Ich bin nicht normal. Mein Gesicht erkenne ich wieder, aber ich misstraue diesen Augen.

Ich schau mich an, und muss mich fragen, ob ich ein Mörder bin. Ich hoffe nein. Ich denke ja. Ich habe kein Haar gekrümmt. Doch bin ich für mehr als einen Tod verantwortlich. Aber nur so verantwortlich, wie es ein General ist, der einen Befehl erteilt. Wer der Soldat ist, der ihn ausgeführt hat, kann ich nicht sagen. Es gefällt mir.

Diese Toten sind unwichtig. Ich fühle mich nicht schlecht. Ich fühle mich stark. Wenn ich mich entscheide, positiv zu denken, kann mich niemand davon abhalten. Ich kann den Tod bringen. All die Sorgen sind nun egal, sie liegen in der Vergangenheit. Es hat geklappt, ich bin nicht verrückt. Ich bin erleichtert. Es ist eine Last von mir gefallen.

Schuldgefühle… habe ich nicht. Die Menschen könnten noch leben, hätte ich andere Entscheidungen getroffen. Aber irgendwann wären sie ja doch gestorben. Oder sie haben den Tod sogar verdient. Ist es wirklich so schade um die, die es erwischt hat? Ein Penner, eine Selbstmörderin und dann dieser Verbrecher. Es gibt doch sowieso zu viele Menschen auf der Erde. Vielleicht bin ich Teufels Werkzeug, um die schuldigen Seelen zu bekommen. Oder Mutter Naturs Helfer gegen Überbevölkerung und die globale Erwärmung. Aber erstmal halblang.

Trotz der Allmachtsphantasien, die ich gerade habe, muss ich auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Objektiv betrachtet, hat sich mein Leben noch nicht verändert. Möglicherweise – offensichtlich – innen drin, aber die äußeren Umstände bleiben, wie sie waren. Ich muss weiterhin kleine Brötchen backen wie ein Lehrling. Nicht auffallen! Was sich mit diesem Fluch oder Segen anfangen lässt, wird sich erst noch zeigen müssen.

Mein Schlachtplan muss also lauten: Laufen lassen. Ich kann jetzt keine drastischen Maßnahmen ergreifen, sonst lande ich im Knast, der Irrenanstalt oder im Versuchslabor. Ob ich weiterhin ein stinknormales Leben möchte? Ich weiß nicht. Für einen Unsterblichen (?!) ist mein Alltag schon etwas öde.

Aber all die Träumerei muss parallel neben meiner Realität laufen. Ich bin immer noch Anders, der Typ aus dem Kiosk. Ich muss die Dinge nehmen, wie sie kommen, kann die Sache nicht vom Ende her betrachten. Sonst werden aus Bananen nur Schalen, aus Kirschen nur Kerne. Jetzt und hier ist wichtig, ich kann mich nicht in eine ausgemalte Zukunft flüchten. Es muss erstmals bleiben, wie es ist.

Das bin ich nun eben: der Suizidkönig. Ich bin ein Nachfahre oder die Auferstehung eines alten Dämons. Ein wahr gewordener Mythos. Kein Wolf im Schafspelz, ein Gott im Menschenkleid. Mir über Hintergründe Gedanken zu machen will ich nicht, darf ich nicht. Ich muss die Tatsachen akzeptieren. Die letzte Phase der ganzen Grübelei half nichts, sie machten alles nur noch schlimmer. Ich bin, wer ich bin. Es ist, wie es ist. Ich bin, was ich bin. Akzeptieren! An guten Tagen wird es mich wohl nicht stören, an schlechten Tagen belasten. Aber es ist, wie es ist. Es ist wie beim Fangen spielen: Hab dich! Du bist dran, wenn ich es will, denn ich bin einen Schritt voraus.

Das ist absolute Macht. Ich kann über Leben und Ableben entscheiden. Ein Handschlag reicht aus. Mit Macht soll Verantwortung kommen… Was für ein Gewäsch. Ich bin weder Peter Parker und habe auch keinen Onkel Ben. Ich werde tun und lassen, was ich will, glaube ich.

Ich fühle mich gerade so frei, frei von menschlichen Problem. Ich bin nicht mehr bereit, die zweite Geige zu spielen wie die Urlaubsvertretung im Orchester. Ich bin zu lange zu kurz gekommen wie Danny Devito. Jetzt trumpfe ich groß auf wie mit einem Royal Flush. Heute ist ein freier Tag und der erste Schritt in ein anderes Leben.

Ich muss hier raus. Anna hat keine Zeit, aber ich muss etwas unternehmen. Diese Wände werden sonst zur Gummizelle, die mich erdrückt. Vielleicht geh ich mir was zu trinken kaufen. Ich denke, dass ich mir einen kleinen Rausch verdient hab. Oder vielleicht auch ins Kino. Oder ich kombiniere das eine mit dem anderen. In den Filmsaal kann man sich bestimmt einen Flachmann schmuggeln und aus einem Softdrink einen Longdrink machen.

Hauptsache raus. Wenn mir jemand blöd kommt, reich ich ihm die Hand – keine christliche Nächstenliebe.