21. Dezember, 16 Uhr 12

Eigentlich sollten mein erfolgreicher Coup, mein neuer Reichtum mich glücklich machen. Aber es ist so unfassbar unfair, dass Anna gestorben ist. Sie war nie krank. Diese Ungewissheit, dass sie getötet wurde oder sich vielleicht wegen mir umbrachte, nagt an mir.

Ich musste mich ablenken, endlich wissen, was passiert war. Ich begab mich auf Spurensuche und landete immer wieder in einer Sackgasse. Ich fand bei mir keine Adressen, keine Hinweise auf das Leben von Anna. Es war zum Verzweifeln: Auch im Krankenhaus bekam ich keine Auskunft, den Besuch hätte ich mir sparen können. Ich freundete mich schon mit dem Gedanken an, in ihre Wohnung einzubrechen. Einzig die Angst vor der Polizei lähmte mich.

Geistesabwesend musterte ich meine Wohnung. Die Murmeln in >>> weiterlesen

22. Dezember, 16 Uhr 47

Meine Schichten im Kiosk bin ich ohne Probleme und große Worte losgeworden. Geld ist so kurz vor den Feiertagen bei allen Kollegen willkommen.

Statt Weihnachten mit Anna zu feiern, muss ihre Familie die Beerdigung planen. Ich wünschte, hier alles aufzuschreiben wäre befreiend gewesen. So einfach macht es mir mein Gewissen nicht.

Eigentlich müsste ich etwas essen, aber das spielt eh keine Rolle. Ich liege doch nur auf der faulen Haut. Ich habe mein Bett schon länger nicht verlassen, 1,40 Meter genügen. Es ist meine kleine Welt, in der mich niemand stört. Die Realität hat Einreiseverbot.Alles ist still, nichts bewegt sich. Bis ich den Kopf schüttele, ungläubig vor den Augen haben, wie ich Anna an ihrem Handgelenk zu mir zog. Ich >>> weiterlesen

22. Dezember, 23 Uhr 44

Ich muss kämpfen! Ich will kämpfen! Ich werde kämpfen! Es ist nicht meine Schuld, es war ein Unfall! Wenn überhaupt ist es ihre Schuld. Sie hat meine Entschuldigung nicht angenommen. Sie hätte sich nur anders verhalten müssen. Ich bin hier das Opfer. Isy ist schuld. Johnny und Tim sind schuld. Sie haben mich alleine gelassen. Natürlich musste ich mich da wegballern. Anna ist schuld, sie hätte mich nicht abweisen dürfen.

Ich frage mich, was ich zuletzt geschrieben habe. Hoffentlich nichts Belastendes. Ich bin ihr Exfreund, es ist nicht verdächtig, wenn etwas mit meiner Schrift dort zu finden wäre.

Ich wünschte, ich könnte entspannen. Stattdessen lausche ich bei jedem Lebenszeichen in Treppenhaus. Verrenke mich fast, wenn ich aus dem Fenster gaffe, >>> weiterlesen

23. Dezember, 12 Uhr 18

Es war eine der letzten Einkaufsmöglichkeiten vor den Feiertagen, wenn ich nicht vor den verschlossenen Türen der Supermärkte stehen, mit den Anrufbeantworter der Lieferdienste diskutieren will. Ich musste raus in die andere Welt, die Realität, um meine Verpflegung für das Verliererfest zu kaufen. Alleine, mit Fertigessen und Fernsehen. Die Wohnung zu verlassen hat mich so viel Überwindung gekostet, dass ich auf spezielle Unterstützung zurückgreifen musste.

Es war überfüllt mit Familien und Hausfrauen, die gestresst Berge von Lebensmittel im Einkaufswagen anhäuften. Überall fleißige Köche, die ihre Zutaten sorgfältig abhakten. Dazwischen immer wieder mein Klientel: Die Alleinstehenden, die sich mit ihrem traurigen Essen eindecken. Dieses Spektakel war ein bitter-süßes Erlebnis: Einerseits die Gewissheit, dass es an Heilig Abend ruhig bleibt, andererseits die >>> weiterlesen

23. Dezember, 19 Uhr 28

Ich musste mich setzen. Stand gleich wieder auf, weil ich nicht untätig sein wollte. Das war’s dann. Nachdem ich mich mit meinem größten Küchenmesser bewaffnete, eine Stunde lang durch meine Wohnung patrouillierte, wurde mir klar, dass dies nicht die richtige Strategie war.

Ich war in eine Ecke gedrängt. Ich musste herausfinden, wer die Katze war, die mich zur scheuen Maus gemacht hat. Ich starrte auf den Zettel, suchte nach Hinweisen. Ein weisses Blatt, beschriftet mit blauem Kugelschreiber, sonst nichts. Je länger ich auf das Papier schaute, desto verlorener kam ich mir vor. Suchte etwas, das nicht da war, wollte etwas finden, das nie versteckt wurde.

Der Geist raste, ich brauchte erstmal was zur Beruhigung, zur Aufmunterung. Wie an der Schnur >>> weiterlesen

24. Dezember, 8 Uhr 11

Das Telefon klingelte am frühen Morgen. Die Worte Unbekannter Teilnehmer lösten ein Unbehagen aus. Ich wollte nicht mit dem Arzt sprechen, wollte mich nicht erpressen lassen. Doch die Ungewissheit würde schlimmer werden als… als was überhaupt?

Ich nahm den Anruf an.

Und es passte genau ins Bild meiner verlogenen Existenz: Isy meldete sich, als wäre nichts passiert, säuselte sie mir Komplimente ins Ohr. Ich wollte nicht noch mehr Feinde, so spielte ich mit: „Na du, was liegt dir auf dem goldenen Herzen?“

Sie: „Ich musste nur an dich denken…“ Danach machte sie die Art von Pause, die den Gesprächspartner auffordert nachzufragen. Ich dachte, dass sie mich mit dem Spielchen aufs Glatteis wie Schlittschuhe führen wollte. Weit gefehlt, sie: „Anders, ich >>> weiterlesen

24. Dezember, 17 Uhr 00

Es erklang immer wieder: Du darfst keine Zeit verlieren! Es sollte keine Kurzschlusshandlung sein, sondern eine Entscheidung: Ich muss hier weg.

Ich habe heute morgen noch ein paar Pakete aufgegeben. Es waren drei oder vier. Keine Ahnung wie viele Liter das Fassungsvermögen ist, jedenfalls die größte Größe. Nachdem ich den Müll und alles, was einfach neu angeschafft werden kann, aussortiert hatte, war nur ein kleiner Haufen übrig. Meinen Umzug dürfen die Paketboten übernehmen. Viel Besitz habe ich sowieso nicht.

Ich habe alles, was ich brauche, als Handgepäck dabei: mein Geld, meine Drogen und mein Tagebuch.

Meine Wohnung ist gekündigt. Also ich habe die Kündigung zumindest schon mental geschrieben. Sollen sie doch einfach die Miete mit der Kaution verrechnen. Kaputt gemacht >>> weiterlesen