21. Dezember, 16 Uhr 12

Eigentlich sollten mein erfolgreicher Coup, mein neuer Reichtum mich glücklich machen. Aber es ist so unfassbar unfair, dass Anna gestorben ist. Sie war nie krank. Diese Ungewissheit, dass sie getötet wurde oder sich vielleicht wegen mir umbrachte, nagt an mir.

Ich musste mich ablenken, endlich wissen, was passiert war. Ich begab mich auf Spurensuche und landete immer wieder in einer Sackgasse. Ich fand bei mir keine Adressen, keine Hinweise auf das Leben von Anna. Es war zum Verzweifeln: Auch im Krankenhaus bekam ich keine Auskunft, den Besuch hätte ich mir sparen können. Ich freundete mich schon mit dem Gedanken an, in ihre Wohnung einzubrechen. Einzig die Angst vor der Polizei lähmte mich.

Geistesabwesend musterte ich meine Wohnung. Die Murmeln in meiner Birne klickerten. Dann tippte ich auf meinem Handy herum. Glückstreffer: Dort entdeckte die Nummer von Annas Freundin. Wann ich sie eingespeichert habe, kann ich nicht sagen, aber mein Herz machte einen Sprung.

Judith ist nicht dran gegangen. Mit wenig Hoffnung hinterließ ich ihre eine Nachricht. Ich kann es ihr nicht verübeln, ich würde an ihrer Stelle auch nicht mit mir telefonieren wollen. Aber das Telefon war eine gute Spur. Ich verfluchte mich, dass ich immer so desinteressiert war. Wenn ich doch nur wüsste, wie die Straße ihrer Eltern in Mainz heißt. Oder wie wenigstens die Vornamen der beiden… in Mainz gibt es eine Menge Behrens. Nach 9 vergeblichen Anrufen, war ich so frustriert, dass ich meiner Wand eine rechte Gerade verpasste. Der einsetzende Schmerz beruhigte mich.

Nach ein paar Minuten mit kalten Wasser war ich wieder cool genug, um weiterzumachen. Der abgekühlte Kopf hat sich bewährt: Durch eine intensive Internetsuche gelang ich doch noch an die richtige Telefonnummer. Brigitte. So heißt ihre Mutter, meine grauen Zellen stimmten mir zu. Die fremden Nummern auf gut Glück anzurufen, fiel mir leichter als zu wissen, dass ich gleich mit Mama oder Papa einer Verstorbenen reden würde. Nachdem ich mir Mut angetrunken hatte, rief ich an.

Als ich erklärte, wer ich bin, hat ihr Vater fast direkt wieder aufgelegt. Sagen wir so: Die Familie scheint nach den diversen Streits mit Anna – und der Trennung – nicht gut auf mich zu sprechen zu sein. Die Tratschtante hat sicher jeden einzelnen meiner Fehltritte brühwarm erzählt. Mit ein paar diplomatischen Lügen konnte ich ihrem Vater dennoch ein paar Fakten aus dem Rücken leiern.

Die Familie hatte gemeinsame Feierlichkeiten geplant. Bezüglich der Zugfahrt musste noch etwas geklärt werden. Anna sollte sich sonntagmorgens melden, damit die Eltern wissen, wann sie am Bahnhof sein müssen. Anna hat sich nicht gemeldet. Also haben sie sich Sorgen gemacht. Sie haben Anna noch ein paar mal angerufen. Vergeblich. Da sie sich bis Nachmittag nicht gemeldet hat, befürchteten die beiden, dass es ein Zugunglück oder ähnliches sein könnte. Bei der Bahn wusste niemand von irgendwas. Das war eine kleine Entwarnung, aber leider nicht beruhigend. Mit einer unguten Vorahnung entschied sich Frau Behrens nach Karlsruhe zu fahren, um nach dem Rechten zu schauen. Dann haben sie ihr noch Mails geschickt, dass ihre Mutter sie abholen würde. Mama kommt gleich, bleib zuhause.

Mama kam. Hat mit dem Zweitschlüssel, der in Mainz lagerte, aufgeschlossen und Anna leblos gefunden. Sie hat den Krankenwagen gerufen. Die Ärzte konnten nur noch den Tod feststellen. Die Untersuchungen haben ergeben, dass sie an einer Überdosis Hypnotikum gestorben ist. Sie hatte zudem einen stark erhöhten Blutalkoholwert, außerdem Amphetamine.

Als ich das höre, riss ich die Augen auf. Ich wollte schreien, schaffte es, lautlos bleiben.

Ich brachte nur motorische Beileidsbekundungen hervor. In einem höhnischen, vorwurfsvollen Ton nahm Herr Behrens sie an. Mit einem Seufzer, der mir bis in den Magen drang, verabschiedete er sich.