23. Dezember, 12 Uhr 18

Es war eine der letzten Einkaufsmöglichkeiten vor den Feiertagen, wenn ich nicht vor den verschlossenen Türen der Supermärkte stehen, mit den Anrufbeantworter der Lieferdienste diskutieren will. Ich musste raus in die andere Welt, die Realität, um meine Verpflegung für das Verliererfest zu kaufen. Alleine, mit Fertigessen und Fernsehen. Die Wohnung zu verlassen hat mich so viel Überwindung gekostet, dass ich auf spezielle Unterstützung zurückgreifen musste.

Es war überfüllt mit Familien und Hausfrauen, die gestresst Berge von Lebensmittel im Einkaufswagen anhäuften. Überall fleißige Köche, die ihre Zutaten sorgfältig abhakten. Dazwischen immer wieder mein Klientel: Die Alleinstehenden, die sich mit ihrem traurigen Essen eindecken. Dieses Spektakel war ein bitter-süßes Erlebnis: Einerseits die Gewissheit, dass es an Heilig Abend ruhig bleibt, andererseits die Befürchtung, dass es einsam und traurig wird.

Ich habe mir den Kartoffelsalat aus dem Becher gegönnt. Mit ein paar Käsebroten und Chips sollte es richtig unausgewogen werden, dann kann ich mich abends schön schlecht fühlen. Das passt zu meinem Gemütszustand. Das Essen wird aber wahrscheinlich Nebensache sein: Alkohol hat meinen Einkauf dominiert. Es gab ordentlich Bier, Wein und ein paar Spirituosen. Kummer und Sorgen will ich ertränken, eine Menge Gehirnzellen ebenfalls in einen nassen Tod stürzen. War teurer als erwartet. 30 Euro für so viel Mist. Aber ich hab es ja.

Auf dem Rückweg freute mich, endlich wieder für mich zu sein. Plötzlich kamen mir zwei Gestalten von der Sorte, die immer auf Stress aus sind, entgegen. Ich ging ihnen mit meinen beiden IKEA-Taschen voll Schund so weit wie möglich aus dem Weg. Blick auf den Boden, bloß nicht provozieren lassen.

Dann die Überraschung: Habe ich mich verhört? Haben die mich gerade König genannt? Ich blickte auf, die beiden Hansel waren stehen geblieben. Ich erkannte sie nicht wieder. Ich: „Was?“ Der kleinere: „Ein Hoch auf unseren König!“ Danach schlug er dem anderen auf den Arm, forderte diesen auf, ihm zu folgen.

Ich hoffte, dass ich verwundert und nicht schockiert wirkte. Die Taschen kamen mir leicht vor, obwohl meine Knie weich wurden. Mein Kopf musste weiss wie der Bart vom Weihnachtsmann sein, während ich die letzten Meter heimging. Ich redete mir ein, dass die beiden Spinner waren. Je näher ich an meinem Bett war, desto sicherer war ich mir: Das musste wieder die Paranoia sein, schließlich hatte ich heute morgen ordentlich was gezogen, aber noch nichts gefrühstückt.

Ich kam bepackt an der Haustür an. Da die Taschen wieder schwerer wurden, musste die Farbe ins Gesicht zurückgekehrt sein. Ich ertappte mich: Den verdammten Briefkasten müsste ich mal wieder leeren. Ich empfand die übliche Nervosität, dass Rechnungen und offizielle Schreiben dabei waren. Es schien wieder eine der unnötigen Leerungen zu sein: Werbeflyer und Einladungen zu Nachbarschaftstreffen – als ob ich mich da blicken lassen würde. Dann Neugier: ein Zettel.

Es war eine Nachricht nur für mich – höchstpersönlich. Ich blickte mir erst links, dann rechts über die Schulter. Ich fühlte mich beobachtet. Vorsichtig, beinahe zaghaft drehte mich im Halbkreis, die Hauswand im Rücken wissend. Es war niemand zu sehen, niemand der Hals und Kopf um die Ecke reckte und strecke. Ich musste trotzdem schnellstens verschwinden, ich brauchte die Sicherheit von verschlossenen Türen.

Die Wohnungstür habe ich zweimal abgeschlossen. Eine Line. Dann brachte ich endlich den Mut auf, den Zettel zu analysieren. Ich sah sofort: Da war jemand mit Aufregung am Werk. Die wilden Bewegungen verrieten es. Der Kugelschreiber hat das Papier beinahe zerfetzt.

Jetzt stehe ich vor einem Rätsel. Jetzt bin ich es, der gejagt wird. Jetzt bin ich entdeckt worden. Auf dem Blatt steht in krakeliger Schrift: Frohe Weihnachten Suizidkönig.