Gönnhardt: Kapitel 65

Neuigkeiten.

Kinder, wie die Zeit verging. Auf Bertrams Grab wuchsen mittlerweile prächtige Brennnesseln, schon beim Anschauen bekam man juckende Finger. Allerdings gedieh es nicht überall, ein kleines Beet in der Mitte, ein verdächtiges Viereck blieb wie von Geisterhand frei von dem Unkraut. Die Füchse urteilten: Bertram war ja immer auf eine saubere Fernseherscheibe bedacht gewesen, er musste sogar von dort unten für ein klares Bild sorgen. Für Claudette war das magisch. Florentine war überzeugt, dass dies bewies, dass alles in Ordnung ist, wie es ist.

Ein gewisser melonenhütiger Fuchs ließ seine Freundinnen in dem Glauben, dass etwas wundervoll Wunderliches geschah. Ein gewisser melonenhütiger Fuchs hatte ganz bestimmt niemanden beauftragt, das Grab von Bertram mit Brennnesseln in einer ungewöhnlichen Formation zu bepflanzen. Und der gewisse melonenhütige Fuchs hat die Pflanzen bestimmt nie und nimmer gedüngt, damit Bertrams Lieblingsblumen sprießen konnten. Nee nicht, wie Claudette zu sagen pflegte.

Heute war ein schöner Tag. Nicht nur die Sonne traute sich endlich mal wieder hinter den Wolken hervor. Auch die Menschen kamen aus ihren verglasten Zellen. Es war gemütlich im Schlossgarten. Nun gut, wenn man es denn entspannend findet, dass Horden von Familien durch die Grünanlagen streifen und einen streicheln wollen.

Gönnhardt und Bertram hatten mit hohem Einsatz gespielt, trotz des herben Verlustes war die Wette gewonnen. Die Menschen hatten sich abgeregt. Die Füchse wurden wieder gegrüßt, sie wurden wieder angelächelt. Der Auftritt auf dem Marktplatz überzeugte die Karlsruher davon, dass die Füchse die Guten und die Wölfe die Bösen waren. Es gab ja auch genügend Fotomaterial und reichlich Videobeweise von Gönnhardts Heldentat, um immer wieder daran erinnert zu werden.

Als auch noch herauskam, dass die Wölfe hinter dem Angriff auf das wehrlose Kind steckten, bekamen viele Menschen ein schlechtes Gewissen. Gönnhardt gab etliche Interviews, in denen er die Unschuld der Füchse beteuerte und die Taten der Wölfen verurteilte.

Es gab keine Widerworte. Denn von den Wölfen war nichts zu hören. Die waren weg und blieben weg. Manch einer hätte sie gerne vor Gericht gesehen, doch wo kein Angeklagter, da kein Verfahren. Das Opfer war wieder wohlauf und die Verdächtigen aus den Augen. So nahm das Interesse an der Geschichte bald ab. Es hatte ja keinen Sinn, sich über Sachen aufzuregen, die man nicht ändern konnte.

Am Stammtisch, an der Bäckertheke oder bei dem Glücksspielstand wurde anfangs noch über das Verbleiben der Wölfe gerätselt. Jemand kannte jemanden, der gesehen hat, wie die Wölfe von Tierpflegern betäubt, dann in einen Transporter geschleift und in Kisten verpackt wurden. Noch am selben Tag sollen die Tiere verschifft worden sein wie grüne Bananen. Ganz genau wollte es keiner wissen. Niemand stellte Fragen, die beantwortet werden mussten. Nachforschungen wurden keine angestellt. Es wollte nämlich keiner die Wölfe wieder da haben. Es wurde sich zugeflüstert, dass diese elenden, vermaledeiten Wölfe in einem Zoo in Sibirien untergebracht waren. Das geschah ihnen recht, die sollten sich mal schön die Zehen abfrieren.

Gönnhardt kam gerade von der Lichtung zurück, er hatte Bertram besucht. Er schlich sich durchs Gebüsch, um nicht entdeckt zu werden. Er hatte keine Lust auf Spielen, Streicheln oder Streiten. Gönnhardt wollte seine Ruhe.

Er atmete tief aus, als er das Schloss unbemerkt erreichte.

Gönnhardt schüttelte den Kopf, als er den neuen, ehemaligen und aktuellen Bereich der Füchse, den großen Ballsaal, betrat. Boah, war das hier voll! Da lag ein Geschenk von Tim für Schorschi, dort eine Decke für Florentine und hier noch mehr Plunder. Es war zwar aufgeräumt, aber überall lag Kram herum. Es war so eng wie früher im Fuchsbau. Bei diesem Gedanken fühlte sich Gönnhardt erst undankbar, dann unwohl. Er musste ehrlich zu sich sein: Ihm graute vor dem Abend, an dem die Füchse schon wieder gesellig beieinander sitzen wollten. Eine festliche Feier? Pah! Ja, klar! Es würde ja sowieso auf Geschwätz und Gezanke hinauslaufen.

Gönnhardt kam eine Idee.

Er rannte raus. Er ignorierte die Mütter, schnitt die Väter und blendete die Kinder aus. Ohne Rücksicht auf Verluste versammelte Gönnhardt seine Mannschaft vor sich und machte ihnen einen Vorschlag.

Gönnhardt: Und was meint ihr?

Claudette: Ja.

Schorschi: Ja.

Florentine: Ja.

Reinholdt: Meinetwegen.

Gönnhardt schlug ganz uneigennützig vor, seinen Teil im Gemeinschaftsraum zu opfern. Dadurch hätte jeder der Füchse mehr Platz. Und Gönnhardt seine Ruhe. Niemand hatte etwas dagegen, dass Gönnhardt den Keller für sich bekommen sollte. Er ging den anderen ja auch auf die Nerven. Gönnhardt konnte schließlich, wenn er wollte, immer etwas zu meckern finden.

Gönnhardt: Kommt, los! Je früher wir anfangen, desto eher haben wir es hinter uns.

Schnauze für Schnauze räumten die Füchse das Untergeschoss frei. Alle halfen mit, damit Gönnhardt in minimalistischer Ungestörtheit leben konnte. So leer wie der Keller bald war, konnte Gönnhardt sich nur noch über sich selbst aufregen.

Für das Grobe war selbstredend wieder Guido zuständig. Er wuchtete gerade eine Kiste mit alten Mänteln die Treppe hoch, als ihm ein Paketbote in die Arme lief. Genaugenommen hatten beide Männer Pappkartons auf den Armen, aber weiter im Programm. Der Karton von Guido wurde abgestellt, der vom Paketboten wechselte den Besitzer.

Bei der Bescherung drängten sich alle Füchse an Guido beziehungsweise an die abgestellte Großsendung. Die Füchse waren so neugierig, dass sie mit den Köpfen Dellen in den Karton drückten. Man durfte ja nichts verpassen! Guido musste deshalb vorsichtig sein, er arbeitete in Zeitlupe. Im Millisekundentakt schlitzte Guido das Klebeband mit einem Teppichmesser auf.

Florentine: Ihhh, das riecht ja wie nasser Hund.

Sie gab Reinholdt einen saftigen Stoß, als sie sich vom Paket entfernte. Die Enttäuschung war zum Greifen. In dem braunen Quadrat befanden sich Hüte. Es waren keine hochwertigen Modelle, mit denen man eine Wahl zur Miss Hut auf der Pferderennbahn gewinnen könnte. Hier war ein Amateur am Werk gewesen, der Fell lieblos verarbeitet hatte. Selbst geflickte Socken hatten mehr Stil. Herausstehende Nähte und Fäden ergänzten das muffige, graue, struppige, verschlissene und blutverkrustete Fell.

Gönnhardt hätte seine schöne Melone wahrscheinlich gegen keinen Hut der Welt getauscht, doch das hier war fast schon eine Beleidigung. Er nahm sich das Recht heraus für die gesamte Gruppe zu sprechen.

Gönnhardt sagte trocken zu Guido: Hässlich. Kannst du den Karton bitte zu dem anderen Plunder stellen?!

Reinholdt, der mit dem Kopf in den Karton getaucht war, schnellte aus Angst beim Plunder zu landen in die Höhe: Halt! Da ist noch was.

Guido kramte und wurde fündig. Ganz unten befand sich eine Postkarte. Die Karte sah wenigstens besser aus als die Hüte. Das Motiv zeigte eine weiße Landschaft mit toten Bäumen und überschaubaren Hügeln. Schnee, Schnee, Schnee: Entweder war dort Winter oder Frau Holle hat gerade ausgeschlafen und ihr Bett gemacht.

Guido hielt die Postkarte wie einen Pokal in die Höhe, bis jeder sie gesehen hatte. Dann las er die Rückseite vor: Hey Füchse, man soll wegen der Umwelt nichts wegwerfen, meint ja eure Freundin. Zum Dank für den staatlich finanzierten Bildungsurlaub gibt es einen Satz neuer Hüte. Es ist die Sibirien-Kollektion. Grüße von Marc + Larissa!

Gönnhardt begriff sofort. Er schüttelte sich. Das war makaber, das war eklig. Er schnappte sich die Postkarte und legte sie zu der Visitenkarte, die er schon lange entsorgen wollte. Gönnhardt schauderte, dann lenkte er sich ab – mit Arbeiten. Auch Reinholdt und Florentine hatten sich bereits abgewandt, sie wollten lieber jetzt als gleich fertig sein. Die beiden freuten sich auf ihre Zweisamkeit. Da Claudette die Entrümpelung als Reinigung sah, war sie längst wieder am Wursteln. Schorschi half ebenfalls wieder, weil er manchmal einfach ein Mitläufer war.

Guido war angewidert. Weil er Körperkontakt vermeiden wollte, verschloss er das Paket mit abgespreiztem Zeigefinger und Daumen unterm Hemdsärmel. Kurz darauf stellte er den Karton zu dem Rest. Der Inhalt war schnell vergessen. Er gammelte fortan mit Requisiten, Mänteln und vergessenen Kostbarkeiten in einer der unzähligen Kisten auf dem Dachboden herum.