Gönnhardt: Kapitel 62

Pampe.

Da war er.

Bertram befand sich ausgestreckt am Ende der Gasse. Es hatte ihn erwischt, der Transporter hatte ihn überrollt. Bertram lag inmitten von Reifenspuren. Nur ein Meter trennte ihn vom rettenden Ufer, nur wenige Augenblicke hätten ihn vor diesem Schicksal bewahren können.

Gönnhardt warf einen kurzen Blick auf den geschundenen Körper seines Freundes: überfahren, zerstört, plattgewalzt. Dann auf dessen Gesicht: erschöpft, resigniert, traurig.

Gönnhardt atmete tief durch. Er musste die äußeren Umstände ausblenden, um für seinen Freund stark sein zu können. Positive Gedanken sind der erste Schritt zur Heilung, dachte Gönnhardt. Bertram versuchte den Kopf zu heben. Vergeblich. Angestrengt richtete er die Augen auf Gönnhardt, seinen Gönnhardt, den er immer bewundert hatte.

Dann verlor sich die Verbindung, Bertrams Lider senkten sich. Panisch machte Gönnhardt einen Satz nach vorne. Er hatte Angst seinen Freund hier, jetzt, in diesem Moment zu verlieren.

Gönnhardt blieb abrupt stehen, als sich die Augen von Bertram wieder öffneten. Während er in die Ferne blickte schüttelte Bertram sanft, ganz sachte den Kopf. Schorschi, Claudette und die anderen, die zu Gönnhardt aufschließen wollten, verstanden.

Bertram und Gönnhardt lagen jetzt nebeneinander, versunken in ihre eigene Welt. Sie sahen sich an, wussten dass sie keine Worte benötigten, um sich zu verstehen. Und dennoch fing Bertram an zu reden. Leise, ganz leise, nur Gönnhardt konnte ihn hören.

Bertram lachte lautlos. Blut quoll aus seinem Mund, als er sprach: Das auf dem Marktplatz mit den Menschen, war das Glück oder dein Ass im Ärmel?

Gönnhardt: Das war theoretisch Zufall, aber gerechnet habe ich damit natürlich.

Ein weiterer roter Schwall. Dann schwiegen sich die beiden Freunde an.

Langsam, mit vielen Pausen erzählte Bertram: Ich muss dir alles erklären. Damit du mich verstehst, damit ich dich nicht mehr anlügen muss. Das mit dem Kind, das war ich. Ich war der Fuchs im Wolfspelz. Ich musste etwas tun, Gönnhardt. Die Wölfe hätten uns sonst getötet.

Bertram atmete tief ein, dann fuhr er fort: Ich wollte nur einmal so mutig sein, wie du es immer bist. Die Menschen wollten uns doch nicht helfen. Alle haben uns abgewimmelt. Das hat mich so genervt. Ohne den Fernseher wurde mir richtig klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich hab ja genug Zeit zum Nachdenken gehabt. Als die Tierschützer da waren, musste ich etwas tun. Wir haben ja ausgemacht, dass das unser letzter Versuch war. Wir sind gescheitert und die Wölfe hätten uns früher oder später tot gebissen. Als diese Typen im Keller saßen und sich gegenseitig feierten, war ich so wütend auf alle Menschen. Die Bedenken waren wie weggeblasen. Die Tierschützer waren mit ihrem Besuch doch das perfekte Alibi, oder? Wie bei den Krimis, einfach alles den Wölfen in die Schuhe schieben. Die Menschen haben sich sowieso nur für sich interessiert, waren total abgelenkt. Da konnte ich mir einen der Pelzmäntel aus den Kisten schnappen. Es war der dicke Mantel, mit dem Claudette den bösen Wolf gespielt hat. Ich bin damit aus dem Keller geschlichen. Aus dem Schloss konnte ich auch unbemerkt, weil die Wölfe mal wieder zankten, wie sie uns töten können. Das war also Schicksal, dachte ich. Ich verwandelte mich in einen Wolf und zog langsam durch die Straßen. Ich hab es so gemacht, wie Claudette immer. Einfach in die Ärmel geschlüpft. Und dann war ich hinterlistig, Gönnhardt. Ich hab geheult wie ein Wolf. An jeder Straßenecke habe ich Halt gemacht.

Gönnhardt sagte nichts. Er war sprachlos.

Nach einer kurzen Unterbrechung, in der Bertram seine Gedanken ordnete, ging die Beichte weiter: Erinnerst du dich noch an den Abend, als die Wölfe unseren Keller verwüstet haben? Wo alles so schlimm ausgesehen hat. Da war ich als erster unten. Ich war so wütend, als ich die Idee hatte, mir war alles egal. Da war ich an deinem Hut. Das Gift, Gönnhardt, ich hab es genommen, nicht die Wölfe. Nur für den Fall, das hast du doch gesagt. Ich wollte die Wölfe an dem Tag alle vergiften. Aber ich hab mich nicht getraut. Und das Gift konnte ich dir ja nicht zurückgeben. Du wärst ja so sauer auf mich gewesen.

Gönnhardt nickte.

Bertram: Ich hab dir doch gesagt, dass ich die Anne beim Lügen erwischt hab. Die wollte ich in meiner Wut auch bestrafen. Dann bin ich in der Nacht durch das Fenster von dem Kinderzimmer. Ich wusste ja, dass ich den Kleinen nie hätte beißen können. So ein Monster bin ich nicht. Das weißt du doch, Gönnhardt. Für meine List brauchte ich halt das Gift. Also hab ich mit meiner Kralle ein Loch in das Päckchen gemacht.

Dann schloss Bertram die Augen. Gönnhardt fuhr an seiner Stelle fort.

Gönnhardt: Und dann hast du ihm das Gift in den Mund gelegt.

Bertram: Für uns Gönnhardt, es war doch nur für uns. Es war so schlimm, er hat mir so leid getan. Der Kleine hat gehustet und dann hat er sich verschluckt. Dann bin ich geflüchtet.

Gönnhardt: Ach, Bertram. Hättest du …

Gönnhardt brach ab. Dass damit die Eskalation und dadurch die jetzige Situation auf Bertrams Kappe gingen, wollte er ihm in diesem Moment nicht reindrücken.

Gönnhardt ließ die Treffen mit Marc Revue passieren. Gönnhardt und Bertram schaukelten sich bei ihren Geheimtreffen gegenseitig hoch. Gemeinsam überzeugten sie Marc, dass die Wölfe böse waren und sich an dem Jungen vergriffen hatten. Bertram war so glaubhaft gewesen, als er Marc versicherte, dass die Wölfe noch mehr Kinder töten wollten. So ein gewiefter Fuchs, dachte Gönnhardt. Marc und die Menschen wurden mit einer Lüge geködert und stimmten dem Plan zu, die Wölfe auszuschaffen.

Bertram hustete, es klang metallisch.

Gönnhardt wechselte von der Gedankenwelt in die Wirklichkeit. Der Regen prasselte gnadenlos weiter. Das hämmernde Wasser spülte von Sekunde zu Sekunde mehr Blut aus Bertrams Körper. Bertram musste unvorstellbare Schmerzen haben. Er stöhnte leise auf. Bei seiner weiteren Erzählung hatte Gönnhardt Probleme, ihn zu verstehen.

Bertram: Gönnhardt, hör mir genau zu. Es ist wichtig! Bevor ich abgehauen bin, habe ich mir eine Hose von dem Jungen geschnappt. Damit sollte die Schuld der Wölfe bewiesen werden. Aber dann kam alles ganz anders. Ich habe die Hose in der Aufregung komplett vergessen. Die Hose, Gönnhardt, das verdammte Teil liegt im Keller. Da, wo mein Fernseher war. Du musst die Hose zu den Sachen der Wölfe legen. Versprich mir das, Gönnhardt. Damit das alles einen Sinn hatte.

Gönnhardt gab ihm sein Wort.

Die anderen Füchse kamen angerannt. Sie hatten lange genug gewartet. Sie mussten jetzt zu Bertram. Gönnhardt verabschiedete sich von seinem besten Freund mit Worten, die Bertram ein letztes mal lächeln ließen: Ich verstehe dich, du mutiger Idiot.

Und dann schmusten die Füchse so innig, wie sie es in den kalten Nächten im Fuchsbau gemacht hatten.

Nachdem er ein letztes mal enger an Claudette gerutscht war, akzeptierte Bertram seine Niederlage. Bertram schloss die Augen.

Während Claudette, Schorschi, Reinholdt und Florentine erst anfingen zu begreifen, was geschehen war, mobilisierte Gönnhardt seine Kräfte. Er hatte noch etwas zu erledigen.

Gönnhardt rannte ins Schloss. Ein Fuchs musste tun, was ein Fuchs tun musste.