Gönnhardt: Kapitel 60

Fenster zum Hof.

Eine Frau beugte sich auf das Lenkrad eines kleinen Lieferwagens. Die Sonne knallte gerade wieder durch die Windschutzscheibe. Sie schaute sich um. Gott sei Dank: Der Himmel hinter ihr zog sich zu. Regen kündigte sich an. Ihr Gesicht war gerötet, sie freute sich auf die bevorstehende Abkühlung. Sie drehte die Klimaanlage dennoch auf.

Puh!

Die Schweißperlen auf ihrer Stirn verschwanden, ihre Poren saugten die Flüssigkeit auf. Dann rieb sie sich die Oberarme. Der Frau war heiß-kalt, sie war nervös. Ein weiteres Mal tastete sie mit den Augen die Fassade ab. Und wieder fluchte sie über den Kerl, den sie einfach nicht fand.

Sie wollte bis zehn zählen, bevor sie die nächste Suchaktion starten würde. Bei drei glitt ihr Blick wieder über das Haus. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte dadurch etwas zu erkennen. Den Kopf in den Nacken gelegt, hoffte sie auf ein Zeichen.

Das gesuchte Gesicht!

Doch sie stand vor einem weiteren Problem: Die Fensterscheibe spiegelte so sehr. Waren das die beiden gehobenen Daumen, auf die sie wartete? Oder bohrte sich dieser Idiot nur in der Nase? Sie wurde abgelenkt, denn da kam schon wieder ein Tier gerannt. Der Frau wurde plötzlich wieder heiß, die Reizüberflutung überforderte sie. Hatte sie richtig gezählt? Wie viele waren das gewesen? Geblendet! War das ein Daumen oder ein Zeigefinger? Sechs? Das mussten doch jetzt alle gewesen sein. Jetzt. Jetzt oder nie.

Sie trat auf das Gaspedal.

Ein dumpfes Geräusch.

Der Wagen machte einen Satz, schon war sie am Ziel. Sie trat auf die Bremse. Die Frau sah ihren Beifahrer an. Es war ein Blick, der sagte: Jetzt bist du dran.

Und dann fing es an zu regnen. Es tröpfelte nicht, es goss wie aus Kübeln.

Der Beifahrer hatte seine Scheibe bereits heruntergekurbelt. Er beugte sich aus dem Fenster der Wagentür und schlug mit der flachen Hand auf die Rolltür hinter ihm ein. Es war wie beim Staffellauf, jetzt waren die beiden Insassen hinten an der Reihe.

Die Wölfe hatten das Auto kommen sehen. Zentimeter für Zentimeter wurde das Sichtfeld dunkler, der Ausgang der Gasse immer schmaler. Die Aussicht auf die Füchse da vorne, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt waren, verengte sich.

Dann war der Weg versperrt. Gorra vermutete einen Hinterhalt. Nichts wie weg! Kommando rückwärts! Sie drehte sich um, war bereit für den Sprint ihres Lebens, doch Bugar stand ihr im Weg. Sie stieß gegen ihn.

Gorra fauchte: Weg du Nichtsnutz, weg von mir!

Nun begriffen auch Zmirka und Drohl, dass sie in eine Falle rannten. Sie mussten zurück auf den Marktplatz. Für die beiden wurde Hammak zum Hindernis. In ihrer Hast prallten sie aufeinander, sie stürzten übereinander, schließlich verkeilten sich die Wölfe ineinander. Es hätte geklärt werden müssen, wer sich zuerst bewegen durfte, um dieses Wolfstwister zu entknoten. Jeder Wolf dachte nur an sich. Jeder zog und drückte nach Belieben. Die Wölfe hatten daher keine Chance zu entkommen, sie konnten nur zusehen, was jetzt geschah.

Es tat sich etwas an dem schwarzen Kastenwagen. Die Schiebetür öffnete sich. Zwei Gestalten beugten sich aus dem Auto. Die Sicht war nicht gut, es war düster und die dicken Regentropfen trugen ihren Teil bei.

Ein Mann beantwortete eine Frage: Egal, einfach drauf.

Es machte im kurzen Abständen pfft, pfft, pffft, pffft, pffft. Die Wölfe sahen sie nicht kommen, doch es flogen Pfeile durch die Luft.

Jeder Schuss ein Treffer.

Die Spitzen drangen in die Körper der Wölfe ein. Die Wirkung entfaltete sich sofort. Zmirka implodierte wie ein Kartenhaus bei einem Windhauch. Bugar kollabierte wie ein Mann mit einem Herzinfarkt. Dann versagten Gorras Beine, sie ging zu Boden wie ein ausgeknockter Boxer.

Hammak und Drohl sahen einander ungläubig an. Die Brüder kämpften gegen den Fremdstoff im Körper an.

Pfft. Pfft.

Mehr gezielte Schüsse, weitere Treffer. Drohls Blick wurde leer. Er nahm seinen Bruder nur noch verschwommen wahr. Er verlor den Kampf, sein rechtes Vorderbein versagte. Drohl knickte auf die Seite. Hammak stützte ihn ab.

Pfft.

Dann wurde auch dem letzten Wolf schwarz vor Augen.

LOS!

Der Beifahrer öffnete die Tür, sprang aus dem Wagen. Die beiden anderen Gestalten legten ihre Gewehre sorgfältig beiseite. Bloß keinen Blindgänger riskieren! Gemeinsam rannten die Mitfahrer zu den Tierkörpern.

Jeder packte sich zwei Beine, die drei Gestalten schleiften die Wölfe zu dem Transporter. Sie gingen eilig und grob zu Werke. Die erschlafften Körper schürften über den Asphalt, wie Zementsäcke wuchteten die Schützen die Tierkörper in ihren Wagen. Es dauerte keine Minute, dann war die Arbeit erledigt.

Die Gasse war nicht nur menschenleer, sondern auch wolfsfrei.

Dann trat die Frau hinterm Steuer wieder auf das Gaspedal. Der Transporter bog quietschend um die Ecke. Und war weg. Es ging schnell. So schnell, die Gasse mutete an, als wäre nie etwas passiert. Es gab weder Fotos noch Videos von dem Vorgang. In diesem Mistwetter wollte niemand seine Technik dem Regengott opfern. Die einzigen Andenken an den Vorfall mit den Wölfen waren Blutspuren und Fellfetzen.

Doch die Tropfen wuschen die Steine bereits ab.