Marktplatz.
Hammak führte die Hetzjagd an.
Blind vor Blutdurst und ohne Rücksicht auf Verluste folgten die wilden Wölfe ihrer Nummer Zwei. Auf den ersten Metern: Steine wirbelten, Gegenstände wackelten.
Dann trafen die Wölfe auf viele Touristen, die knipsten. Es wurde es unübersichtlich auf dem Schlossvorplatz, wodurch Erwachsene gestreift und Kinder umgeworfen wurden. Statt Slalom zu laufen, ging es für die Wölfe mit dem Kopf durch die Mitte. Den gewaltigen Vorsprung der Füchse hatten die Wölfe dadurch schnell wettgemacht.
Und das bekamen die Füchse zu spüren. Die Wölfe gingen rigoros zu Sache. Brutal wurde es immer wieder für kurze Augenblicke: Die Wölfe schnappten, bissen und kratzten, wenn sie einen der Füchse zu fassen kriegten. Sie sorgten damit dafür, dass die Füchse auf dem Weg zum Platz der Grundrechte immer wieder den Raketenantrieb anwarfen. Bei jedem Treffer bekamen die Füchse einen Energieschub, egal ob selbst getroffen oder mitgelitten.
Für das menschliche Auge war diese wilde Fahrt ein faszinierender Sprint – sofern man nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Füchse das Schloss verlassen und sowohl den Vorplatz als auch den Platz der Grundrechte passiert hatten.
Die Füchse erreichten die enge Passage, die zum Marktplatz führte. Ihr Vorsprung war in den letzten Millisekunden wieder geschmolzen. In der Verfolgergruppe befand sich Zmirka derzeit ganz vorne. Durch ihre luftige Frisur war sie besonders windschnittig. Sie schnappte nach Florentine, verfehlte sie um wenige Nanometer. Reinholdt fackelte nicht lange.
Reinholdt: Auaaa!
Reinholdt schrie auf, weil Reinholdt sein Gesäß für das von Florentine opferte. Reinholdt hatte Zmirka mit seinem Hinterlauf ausgebremst, die sich wiederum für die Gabe mit einer tiefen Fleischwunde revanchierte.
Gönnhardt wurde Angst und Bange, als er sich umschaute. In der dunklen Gasse war es lebensgefährlich! Lautstark forderte er die Füchse auf, einen Zahn zuzulegen, verdammt nochmal. Armer Reinholdt, doch Zmirkas Biss kam genau richtig. Angst verlieh Flügel.
Reinholdt ließ sich nicht lange bitten. Er erreichte den Marktplatz als erster. Und hätte vor Schreck beinahe angehalten, denn dort herrschte Volksfestatmosphäre. Gönnhardt setzte bei seiner Ankunft einen weiteren mentalen Haken in Sachen Planung. Es tummelten sich viele Leute, die von diesem zentralen Platz aus die umliegenden Sehenswürdigkeiten beäugten.
Claudette kam als Letzte aus der engen Gasse. Sie hätte keine Sekunde später kommen dürfen, ausgerechnet jetzt führte eine jugendliche Fremdenführerin ihre asiatische Touristengruppe Richtung Schloss. Die Körper der feixenden und fotografierenden Männer und Frauen verschlossen die Gasse wie ein Korken.
Als sich Gönnhardt umblickte, um Bestandsaufnahme zu machen, war er natürlich froh: Alle Füchse waren beisammen, aber die Wölfe noch nicht zu sehen. Gönnhardt verlor keine Zeit: HIER ENTLANG!
Der Fuchs hatte seine Stimmbänder auf die höchste Lautstärke gedreht. Gönnhardts Geschrei ließ das Gemurmel der Menschen verstummen. Ein G G G hallte über den Marktplatz. Für wenige Sekunden gehörte den Füchsen die volle Aufmerksamkeit. Dann wurde gemauschelt. Wie auf Kommando bildeten einige neugierige Menschen eine Traube auf dem Platz. Etwas zeitversetzt traten Schaulustige an die Fenster der Geschäfte und darüberliegenden Büroräume/Wohnungen. Selbstverständlich zückten viele Junge und Junggebliebene ihre Kameras. Dem Blick durch die Linse oder auf den Bildschirm folgte Ernüchterung.
Die Füchse waren verschwunden.
Schwer atmend erreichten die Wölfe den Marktplatz, sie hatten die chinesische Mauer endlich überwunden. Die Raubtiere fanden sich auf einem großen Platz mit gaffenden Augen wieder. Das war unerwartet, instinktiv verlangsamten die Wölfe ihre Schritte.
Hammak schnaufte vielsagend aus: Ohhh.
Dann schaute er Zmirka fragend an. Bugar war so ängstlich, dass er sich hinter Drohl versteckte. Gorra konnte sich nicht entscheiden, ob sie lieber Menschen oder Füchse jagen wollte. Zmirka, die sich jetzt noch mehr für ihren Haarschnitt schämte, nahm ihr die Entscheidung ab: Mensch egal. Fuchs, Fuchs, Fuchs!
Die Wölfe drehten sich einmal um die eigene Achse. Wo waren diese miesen Fellsäcke bloß? Hinter der Pyramide? In einem der Geschäfte? Die Wölfe konnten ihre Feinde riechen, aber nicht sehen. Zmirka pflaumte Drohl an: Such! Du, such, geh!
Bugar rotierte derweil weiter, weil er nicht mitbekommen hatte, dass die anderen wieder auf festen Füßen standen. Nachdem Bugar die vierte Pirouette gedreht hatte, war er nicht nur orientierungslos, er sah auch doppelt. Bugar war fündig geworden: Ich seh sie! Da und da!
Drohl folgte der schwindel-trunkenen Schnauze seines Untergebenen. Es dauerte ein bisschen, bis er verstand, worauf Bugar zeigte. Bugar meinte ein altes Ehepaar. Drohl staunte nicht schlecht. Tatsächlich: Da glänzte rötliches Fell. Durch den Sonnenschein wurde das Fuchshaar fast bis zur Unsichtbarkeit aufgehellt. Leider nur fast.
Die Füchse versteckten sich zu Zweierpaaren in drei Reihen hinter dem Mantel einer Frau beziehungsweise dem Trenchcoat eines Mannes. Die unpassende Kleidung der älteren Herrschaften war für Schorschis Fell nicht winterlich genug, denn seine Flanke lukte heraus.
Die Wölfe näherten sich den Rentnern. Ganz untypisch löste sich Zmirka aus der Sicherheit der Gruppe und ging einen Halbkreis. Sie verrenkte den Kopf solange, bis Gönnhardt ihr in die Augen schauen musste. Langsam und undeutlich sagte die First Lady der Wölfe: Hab dich.
Für die nächsten zwei, drei Minuten standen die beiden Tiergruppen einander beinahe gegenüber. Getrennt nur durch die Menschen in der Mitte, die keinen Mucks machten. Das Ehepaar begutachtete die Wölfe, wie ein Lamm seinen Schlachter. Die zitternden Füchse hinten machten ihnen keine Angst. Die Füchse hatten sich schließlich vorgestellt und artig nach der Rückendeckung gefragt. Das, was da vorne war, wirkte bedrohlich. Oma und Opa hielten in Schockstarre Händchen, in ihrer Geiselhaft wagten sie es nicht mal zu zucken.
Es geschah nichts. Obwohl Zmirka immer wieder Sprünge andeutete, bewegten sich die Füchse keinen Millimeter. Sie wussten zwar, dass sie ertappt waren, doch schielten weiterhin hinter der seit 42 Jahren verheirateten Trennwand hervor. Versteinert schickte die Frau ein Stoßgebet in den Himmel, dass dies nicht der Moment sei, in dem der Tod sie scheiden sollte.
Der Showdown wurde zum Schauspiel: Jedes Augenpaar auf, über und neben dem Marktplatz war auf diese Szene gerichtet.
Und dann war es soweit.
Bugar rannte als erster los. Er kochte vor Wut, weil er an Gönnhardts Beleidigung und das fiese Gelächter seiner Freunde denken musste. Bugars Kriegsgeschrei war individuell, mal was anderes: DUUUMMHEEEIT!
Bugar rannte rechts an der Frau vorbei. Zmirka folgte ihm leicht zeitverzögert. Kurz später jagten alle Wölfe hinter den Füchsen her.
War es der berüchtigte Vorführeffekt? Die vielen Beobachter schienen die Jäger zu beeinflussen, die Wölfe trieben die Füchse ohne Sinn und Verstand vor sich her. Es ging im Kreis um das Rentnerpaar. Diesmal war die Kondition auf Seiten der Füchse. Die Verschnaufpause hatte den Füchsen gut getan, sie hatten neue Energie geschöpft. Die Wölfe waren sauer und aufgeregt, so vergeudeten sie mit Fluchen und Schimpfen Sauerstoff. Als Resultat schnappten sie immer wieder nach Luft, bissen ständig ins Leere.
Mal drehten die Wölfe um, dann teilten sie sich auf. Keine Taktik ging auf. Es spielte keine Rolle, wie weit der Umweg war, die Getriebenen schafften es immer wieder, die Menschen als Schutzschild zwischen, vor beziehungsweise hinter oder neben die Jäger zu manövrieren. Mal schwärmten die Füchse aus, dann liefen sie zickzack und voneinander getrennt.
Gorra stoppte ihre Mitstreiter: Halt!
Die Ausgangsposition war wieder erreicht. Wolf stand vor Mensch, Mensch stand vor Fuchs. Gorra war zornig. Sauer auf die Füchse, wütend auf die Menschen, die ihnen Schutz gewährten. Die Wölfe zogen sich ein paar Meter zurück. Es folgte eine kurze Unterredung, dann war es Gorra, die die Führung übernahm. Sie versammelte die Wölfe hinter sich, um überzeugend zu wirken. Dann verlangte sie von den beiden Menschen, endlich abzuhauen.
Nichts.
Gorra wiederholte sich.
Keine Regung.
Auch die weiteren Aufforderungen an das Paar wurden mit dumm-dämlichen Blicken quittiert.
Oma und Opa verstanden überhaupt nichts mehr. Das lag allerdings nicht an den Rentnern oder deren Hörgeräten, vor lauter Aufregung hatte Gorra vergessen zu sprechen. Sie war in die alte Wolfssprache verfallen. Auch ihren Kollegen fiel nicht auf, welches Kauderwelsch Gorra von sich gab.
Die Weigerung der Menschen zu gehorchen, brachte Gorra auf die Spitze der Palme. Sie schrie, drohte und fluchte derart furchteinflößend, sogar die anderen Wölfe waren ängstlich. Die armen Menschen hörten lediglich Grunzlaute aus einem schäumenden Maul, die immer lauter und aggressiver wurden. Der Rentner schaute die Rentnerin an, die Rentnerin schenkte dem Rentner zur Aufmunterung ein ratloses Lächeln mit einem halbherzigen Schulterzucken.
Gorra verstand den grinsenden Mund als provozierende Geste. Gorra hatte genug. Gorra hatte ihre letzte Warnung ausgesprochen. Mit viel gutem Willen hätte man QUAROK MI BANORMU FROTTE verstehen können. Sie setzte zum Sprung an, im Visier die rüstige Dame. Gorra grunzte etwas. Nur die Wölfe verstanden: Sie hatte vor, der alten Dame ihre Zunge abzubeißen, weil diese in Gorras Wahnvorstellung gerade herausgestreckt wurde.
Gorra bleckte die Zähne.
Die Zuschauer stöhnten auf. Nachdem sie Luft geholt hatten, quiekten die umstehenden Frauen schrill, die Männer protestierten lautstark.
Gorra sprang ab.
Manch einer fotografierte die fliegende Gorra. Aus einem der Schnappschüsse wurde ein legendäres Motiv.
Klick.
Klick.
Klick.
Pfff.
Gorra pfiff Luft aus wie ein benutzter Dudelsack. Dann rang sie nach Atem.
Gönnhardt, der auf dem ikonischen Foto auf der rechten Seite zu sehen war, war ihr todesmutig in den Bauch gesprungen. Sein Kamikazeflug kam nicht nur für den einen Fotografen im richtigen Moment. Gorra verfehlte das Gesicht der Frau um eine wortwörtliche Haaresbreite. Der Frau wurde lediglich das lange Hexenhaar am Kinn gekrümmt.
Die angespannte Situation entlud sich überraschend: Die anderen Wölfe mussten lachen. Die Männer gackerten wie Hühner, Zmirka heulte auf wie eine Hyäne. Zum Schießen! Das war ein Anblick gewesen: Der große Sprung von Gorra und dann hat der mickrige Fuchs mit seinem kümmerlichen Hut sie mit einem winzigen Satz außer Gefecht gesetzt. Das war richtig peinlich, da waren sich alle Wölfe einig.
Bugar meinte, dass die Wölfe Gorra damit bis an ihr Lebensende aufziehen könnten. Drohl erwiderte, dass Gorra in der Hierarchie jetzt sogar hinter Bugar stand. Die Wölfe waren mit sich selbst beschäftigt.
Währenddessen nutzte Gönnhardt die Gunst der Sekunde. Er lächelte die alte Dame an, erkundigte sich nach ihrem Befinden. Wohl. Noch so ein Motiv: Während sie ihm behutsam den Hut zurecht rückte, gab er seinem Rudel Anweisungen.
Hammak bemerkte als erster, dass die Füchse flüchteten: EY!
Zmirka schlussfolgerte, dass sich die Füchse im Schloss verbarrikadieren und sie aussperren wollten. Sie dachte sich, dass sie die Sache jetzt zu Ende bringen mussten, egal ob die Menschen zuschauten oder nicht. Es spielte für sie keine Rolle mehr, wen man beim Angreifen sah. Zmirka sagte deutlich, jeder konnte es verstehen: Töten! Blut! Alle töten!
Gorra wurde bei dem Gedanken an das Gemetzel wieder Herrin ihrer Sinne. Auch sie hatte die menschliche Sprache wiedergefunden. Erst beleidigte sie das Ehepaar, dann knöpfte sie sich die Menschentraube vor, die nähergekommen war, um dem Ehepaar zu helfen.
Gorra: Wenn die Füchse zerfetzt sind, seid ihr Menschen dran. Jeder einzelne! Erst Alte und Schwache, dann der Rest!
Zmirka schüttelte den Kopf, aber jetzt war es ja eh schon zu spät.
Nun ging die Jagd wieder von vorne los. Die Strecke schien zurückgespult zu werden. Geschlossen nahmen die Wölfe die Verfolgung auf. Gorra peitschte die anderen an. Diesmal machten alle Menschen die Bahn frei, was den Füchsen zu Gute kam.
Die Füchse hatten den Marktplatz schon fast verlassen. Gönnhardt spürte bereits die Kälte der Schattengasse. Erleichterung machte sich derweil bei den zurückbleibenden Menschen breit. Niemand musste sich schämen, weil er/sie/es tatenlos den Tod zweier Rentner gefilmt oder fotografiert hatte. Der Fuchs war ja ganz offensichtlich Herr der Lage gewesen, der hat ja ganz offensichtlich alles im Griff gehabt.
Die beiden Eheleute, die so tapfer waren, umarmten sich. Der Ehemann stammelte: Der hat uns gerettet, der Fuchs hat uns gerettet. Die Füchse haben unser Leben gerettet! Die Ehefrau flüsterte ihrem Gatten kleinlaut zu, so dass es niemand anderes hören konnte: Hoffentlich merkt niemand, dass mein Pelzmantel echt ist. Den zieh ich nie wieder an.