Sinne sammeln.
Bertram nahm das Getöse als Erster wahr. Ohne seinen Fernseher als Ablenkung konnte er der Realität ja nicht mehr entfliehen. Die Geräusche erinnerten ihn an die eine Dokumentation über den gescheiterten Putsch in Humbugistan. So oder so ähnlich hieß der Nomadenstaat, Bertram war sich nicht ganz sicher. Die vielen Reportagen verschwammen miteinander. So ungefähr, wie sich auch dieses Dickicht von Schritten, Rufen und Gemauschel zu einem undeutlichen Lärm vermischte.
Die Sicht aus dem Kellerfenster war eingeschränkt, dennoch konnte Bertram erkennen, was drohte. Er lukte durch das Kellerfenster und sah eine Armee von Klonkriegern aufmarschieren. Zuerst war nur eine Wand aus blauen Hosen zu sehen. Die Menschen gingen zwar nicht im Gleichschritt, aber dennoch bedrohlich und unermüdlich Richtung Schloss. Der Winkel vergrößerte sich und gab nach und nach die Oberkörper sowie nach einigen weiteren Metern auch die dazugehörigen Köpfe frei. Es waren kaum unterscheidbare Fratzen. So hasserfüllt, alle könnten verwandt sein. Jeder für sich entweder Ausgeburt der Hölle oder Satansbraten.
Bertram alarmierte die Anwesenden: Wacht auf! Es ist Demozeit!
Gönnhardt: Ahhh!
Die angespannte Warterei auf diesen Moment raubte Gönnhardt schon seit einer Weile Kraft und Nerven. Die Aufregung war ermüdend. Die gegenseitige Verrücktmacherei unter den Füchsen erschöpfte doppelt. Deswegen war Gönnhardt ein ums andere Mal in einen unbefriedigenden Sekundenschlaf gefallen. Und aus so einem hat Bertrams Ruf ihn aufschrecken lassen.
Die Füchse waren an diesem Donnerstag nicht wie üblich im Garten, sie hatten sich zurückgezogen. Die Stimmung war mal wieder dort, wo sich die Füchse aufhielten – unten. Nur eingespielte Lacher aus der Sitcom-Konserve hätten dieses Trauerspiel noch mehr verdeutlichen können.
Während die Füchse ihre sieben Sinne sammelten und sich nebeneinander an dem Kellerfenster aufreihten, formierten sich auch die Demonstranten. Und das dauerte eine Weile, denn dieser Aufmarsch war kein Vergleich zur letzten Woche. Es waren Menschen so weit das Auge reichte – und Füchse können gut sehen.
Gönnhardt zu Bertram: Da haben uns die Wölfe aber was eingebrockt.
Bertram zu Gönnhardt: Meinst du, das ist alles wegen dem Kind? Das sind ja Menschen wie Laub am Waldboden.
Gönnhardt: Ja, wegen dem Kind, wegen allem.
Da der Karlsruher Morgen nur einen kleinen Auflagensprung erlebt hatte, mussten die Buschtrommeln schnell gewesen sein. Es wurde geschrien, gesagt, geschrieben, kopiert, eingefügt, weitergeleitet und geteilt: Das Viehzeug im Schloss war es gewesen! Die Tiere machen Jagd auf unsere Kinder!
Je mehr Aufmerksamkeit der Fall bekam, desto erdrückender wurden die Beweise: Jeder kannte jemanden, der in der Nacht Geschrei, Geheule und Gejaule gehört hatte – oder dies behauptete. Und jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der in der Nacht ein Tier gesehen hatte – oder dies behauptete.
Hier und jetzt war es an der Zeit, den Invasoren zu zeigen, was man von ihnen hielt. Die Demonstranten zogen sich durch alle Gesellschaftsschichten. Wenn es um Leib und Leben von Kindern ging, verstanden nicht mal die Komiker vom Karlsruher Freudentheater Spaß. Die Ulknudeln befanden sich übrigens in der 23. Reihe. Die Spitze bildete eine Meute von Stiernacken. Die Körperhaltung verkrampft, die Muskeln angespannt. Nach einer kurzen Unterredung löste sich einer aus der Gruppe. Der Anführer bezog Position. Gönnhardt schaute ganz genau. Er blinzelte kurz, musste sich vergewissern.
Ganz vorne stand diesmal nicht sein spezieller Freund Marc. Der neue Vorsänger war aber ein ebenso grimmiger Geselle. Ein Megafon in der linken Hand fuchtelte er mit beiden Armen. Er stachelte die Menge auf, bevor er zu dem ersten Sprechchor ansetzte: Ob Wolf oder Fuchs, genug ausgenutzt!
Der Mob brüllte zum Bruder Grimmig zurück: OB WOLF ODER FUCHS, GENUG AUSGENUTZT!
Es schallte beachtlich. Die Druckwelle war so enorm, dass oben im Schloss die Gläser wackelten. Hätten die Wölfe nicht schon sämtliche Gemälde zerstört, mindestens vier wären in diesem Moment heruntergefallen. Gorra strahlte, als sie der Aggressivität gewahr wurde. Sie nickte zufrieden. Gorra: Wunderbar. Sie wollte rausgehen, um die Atmosphäre aufsaugen zu können. Sie wollte sich an der entgegen geworfenen Ablehnung berauschen. Aber ohne Mitstreiter, am helllichten Tag, unter den Augen so vieler Menschen war das heikel. Also musste sie ihre Mannschaft auf Kurs bringen.
Es hallte: KEINE GNADE FÜR FELL, VERZIEHT EUCH GANZ SCHNELL!
KINDER RÄCHEN, KIEFER BRECHEN!
Gönnhardt stand gefesselt am Fenster. Dieser neue Anführer war ein vollkommen anderes Kaliber.
FÜCHSE SIND DRECK, WIR HAUEN SIE WEG!
WÖLFE SIND SCHMUTZ, JETZT WIRD GEPUTZT!
Bei dem letzten Reim lächelte Claudette, überlegte, schüttelte den Kopf, lächelte nicht mehr.
Der Vorsänger nickte zustimmend, doch sah aus, als ob ihm ein unangenehmer Geschmack auf der Zunge lag. Die Marionetten tanzten nach seiner Pfeife. Er kramte in seiner Hosentasche, ein Gesangsbuch suchte er nicht, aber einen Schmierzettel mit weiteren Anfeindungen.
Gönnhardt sah sich hilfesuchend im Keller um. Ratlose Gesichter. Wo war eigentlich Anne? Schon den ganzen Tag warteten sie auf ihre moralische Unterstützung. Die Kellertür knarrte, sie wurde geöffnet. Reflexartig zuckte Gönnhardts Kopf in deren Richtung. Er dachte schon an Gedankenübertragung.
Übertragung fehlgeschlagen, die Verbindung konnte nicht hergestellt werden.
Guido ächzte vor sich hin, als er die Treppenstufen nahm. Sobald er den Boden erreicht hatte, schoss er im Geiste ein Gebet in den Himmel: Danke lieber Gott, dass du mich hast nicht-stürzen lassen!
Guido lehnte an der Wand, dann wandte sich der Hausmeister an die Füchse: Meine Lieben, ich habe gerade mit der Frau Anne telefoniert. Sie kann aus familiären Gründen nicht. Ich kann aber bei euch bleiben.
Die Träume von ihrem heldenhaften Auftritt waren mittlerweile ohnehin zu einem Funken Hoffnung verkümmert. So ließ Guido wenigstens nichts zerplatzen, sondern nur erlöschen. Ausgerechnet an diesem Donnerstag, dem schlimmsten von allen, kam Anne nicht. Gönnhardt hatte zwar so ein Gefühl gehabt, aber die Enttäuschung war ihm dennoch ins Gesicht geschrieben.
Die Füchse gingen verschiedene Phasen der Bewältigung durch. Erst lachten sie, dann trauerten sie, dann waren sie wütend.
Florentine: Ausgerechnet heute, wo uns die Wölfe diesen riesigen Schlamassel eingebrockt haben.
Bertram, der die beiden ersten Phasen übersprungen hatte, schimpfte: War doch klar, dass die nicht kommt. Die ist halt doch ein typischer Mensch!
Guido versuchte das Thema zu wechseln, indem er auf das Kellerfenster zeigte und Laute von sich gab: Uh. Uff. Puh. Das sollte suggerieren, dass das, was da draußen stattfand wichtiger war, als über Anne zu lästern. Claudette deutete das Gestöhne allerdings als Schwächeanfall. Claudette sah ihren Guido schon vor Erschöpfung zusammenklappen.
Claudette: Hinsetzen, Guido!
Die Nachfrage, wo er sich hinsetzen könne, beantwortete sie klipp und klar: Zuhause in deinem Bett!
Schorschi: Aber im Bett liegt …
Claudette: SCHORSCHI!
Die anderen Füchse gaben zaghafte Widerworte, doch Claudette bestand darauf, dass Guido heimging, um sich auszuruhen: Du hast schon genug für uns getan.
Guido protestierte. Schorschi hätte ihn auch gerne da behalten, er sagte aber nichts, obwohl sein Magen knurrte. Florentine fand es eher ungünstig, unten ganz allein zu sein (Reinholdt danach ebenfalls). Erst als Gönnhardt und Bertram Claudette zustimmten, quälte sich Guido die Stufen hoch.
Kurz nach dem letzten Knarzen standen die Füchse wieder am Fenster.
Bertram: Gönnhardt, die Leute da draußen sind tollwütend.
Gönnhardt zu Bertram: Der Typ ganz vorne ist böse. Der Marc wäre mir echt lieber.
Bertram mit aggressivem Unterton: Ach nee …
Zum Glück haben die Wölfe in ihrer Wut nicht mitbekommen, dass Guido den Keller schon wieder verlassen hatte. So ließen sie die Füchse in Ruhe. Guido war schließlich einer der wenigen Menschen, der nützlich für sie war. Oben hatte Gorra nämlich zwischenzeitlich für die notwendige Gewaltbereitschaft gesorgt. Da draußen war reichlich Beute.
Die Wölfe gingen raus.
Gönnhardts Kopf bewegte sich in einem Halbkreis. Da erschien ein kleiner Schatten, der sich immer weiter näherte. Was angeflogen kam, war kein Flugzeug, kein Vogel.
Klirr.
Der Pflasterstein machte kurzen Prozess mit einer Fensterscheibe irgendwo im Erdgeschoss.
Klirr.
Klirr.
So war es wenigstens einmal von Vorteil, im Keller zu wohnen. Im Untergeschoss mit den vergitterten Fenstern waren die Füchse zwar vor den Wurfgeschossen sicher, ein mulmiges Gefühl wanderte in Gönnhardt trotzdem wellenartig von oben nach unten. Erst sah Gönnhardt schwarze Punkte, dann galoppierte sein Herz, seine Knie wurden weich, anschließend kribbelte es in den Füßen. Und plötzlich zitterte der ganze Körper. Was hatte er nur getan?
Oben spielte sich in den Sekunden vor dem ersten Einschlag Folgendes ab: Die Wölfe verließen das Schloss. Draußen wurden sie prompt mit Steinwürfen empfangen. Damit war der Kampfeswille gebrochen, die Wölfe flüchteten umgehend.
Noch bevor der dritte Stein einschlug, versteckte sich Gorra zusammengekauert unter der Couch. Die übrigen Wölfe folgten auf den Plätzen.
Die nächsten Minuten waren dramatisch. Der Anführer hatte genug von dem Sprechgesang, doch die fliegenden Steine reichten ihm noch nicht. Er wollte weitere Taten sehen: Wir stürmen das verdammte Schloss! Wer ist dabei?
TSCHHHHH.
Erst flog das Megafon in den Himmel, dann erfasste der Wasserstrahl den Torso vom neuen Anführer. Der junge Mann wurde von dem gewaltigen Druck umgeworfen. Wie ein begossener Pudel stand er auf, sah sich um und rannte schließlich Richtung Marktplatz davon. Die Polizei löste die Demonstration auf, weil die Lage anfing zu eskalieren. Die restlichen Menschen leisteten ebenfalls keinen Widerstand. Der Wasserwerfer war das letzte Geschoss an diesem Tag.