7. Oktober, 13 Uhr 23

Den Treffpunkt hatte er mir schnell erklärt, der Zeitpunkt war bald. Also bin ich schnell nach Hause gefahren. Dort habe ich mich sofort umgezogen. Nicht dass mich da jemand fotografiert, wie man es von den amerikanischen Serien kennt. Ich habe die Verkleidung angezogen, die sagt, dass man nicht erkannt werden möchte. Neben den obligatorischen Accessoires, Sonnenbrille und Mütze, habe ich mich für Klamotten entschieden, die so alt ist, dass ich sowieso entsorgen wollte. Die Jeans mit dem abgelatschten Saum will ich sowieso nicht mehr. Den Strickpullover auch nicht.

Ich sah mich im Spiegel an. Lächerlich. Normalerweise müsste ich mich schämen, so auf die Straße zu gehen. Ich schwor mir, dass mein erster Drogendeal auch mein letzter sein wird. Im Geiste habe ich das dämlich Pulver schon im Abfluss versenkt.

Als ich die Wohnungstür öffnen wollte, habe ich nochmal gestoppt. Ich wollte mir doch ernsthaft noch ausreden, das Ding durchzuziehen. Die inneren Widerstände haben mir zugeredet. Mir ihrer Engelsstimme haben sie mir Mut gemacht, einfach aufzugeben: Du könntest dich einfach hinlegen und Musik hören. Du machst in Zukunft einen Bogen um den Kifferladen. Es ist zu gefährlich.

Aber dann widersprach die Gier, der Nervenkitzel stimmte ein. Ich musste mich zurück in die Realität holen: Schnell verdientes Geld. Mit breiter Brust stand ich da, tief einatmend.

Als die Haustür lärmend ins Schloss fiel, war ich schon über der Straße. Hinter mir lag meine Wohnung, vor mir ein Abenteuer. Ich beschleunigte meinen Schritt.

Ich habe kaum realisiert, welchen Weg ich eigentlich eingeschlagen hatte. Bin beinahe blind durch Straßen und Gassen gehetzt. Plötzlich stand ich vor besagtem Taubenturm. Der unangenehme Geruch und die Unruhe der Vögel zeigten überdeutlich, dass es jetzt dreckig werden würde.

Ich schaute mich um. Niemand da, drei leere Sitzbänke. Ich wählte die in der Mitte. Damit mich der Typ bloß nicht übersieht. Das wäre sonst mal wieder typisch gewesen. Während ich so dasaß und wartete, bohrten die inneren Stimmen wieder: Was ist, wenn einer der Gang der Dealer ist? Was ist, wenn er dich wiedererkennt und dich hier und jetzt absticht? Es ist noch nicht zu spät. Steh auf und geh!

Dann kam ein dicker Kerl mit Trainingsanzug. Kleine Welt: Der Typ aus dem Laden. Er hat sich direkt neben mich gesetzt, eine Tüte mit Brotfetzen herausgeholt und damit die Tauben gefüttert. Er war Ulli aus einem Paralleluniversum. Der erste Ansturm war laut. Als der zweite Schwarm kam, stritten sich die fliegenden Ratten fast ohrenbetäubend um das Mahl.

Mir wurde klar: Das ist das Ablenkungsmanöver.

In kurzen Sätzen erklärte er mir, was er wollte. Er hat seine Einkaufstüte hingehalten. Ich griff rein. Eine Handvoll Brotfetzen flog auf die Tauben. Nochmal. Es sah von Weitem oder bei einem flüchtigen Blick wohl tatsächlich so aus, als würden hier zwei erwachsene Männer zusammen Tauben füttern. Absurd bei genauer Betrachtung.

Beim dritten Griff sollte ich mein Gras ablegen. Ich schaute mich um, wollte mich vergewissern, dass keine Zuschauer da sind. Durch das laute Flügelschlagen zischte er: „MACH!“

Die Übergabe war so unspektakulär, so professionell, dass so etwas bestimmt an der Tagesordnung steht. Danach wollte ich dem Typen die Hand geben. Um im wahrsten Sinne des Wortes einen Trumpf in der Hinterhand zu haben, um auf mein Bauchgefühl reagieren zu können. Sollte er mich wider Erwarten abziehen wollen, könnte ich mich rächen.

Er: „Warte ein paar Minuten, dann stehst du auf und gehst Richtung Kaiserstraße. Dann gehst du zu den Bänken am Platz der Grundrechte. Dort sitzt die Kontaktperson mit einem Fahrrad. Lass dir ein wenig Zeit, währenddessen checken wir dein Zeug. Dann bekommst du dein Geld.“

Er hat weder Antwort noch Nachfrage abgewartet, ist direkt aufgestanden. Durch die ganzen Bäume und Hecken, abgelenkt von den nervigen Tauben habe ich ihn binnen Sekunden aus den Augen verloren. Respekt, kein schlechter Ort.

Nun war ich die Ware los. Ich saß da wie bestellt und nicht abgeholt. Ich war aufgeschmissen. Schaute auf meine Schuhe, versuchte die Tauben zu vertreiben. Und ich Idiot habe vergessen, auf die Uhr zu schauen. Wie lange warte ich schon? Aus dem schnell verdienten Geld schien harte Arbeit zu werden.

Ich musste meinen Hut ziehen. Die hatten eine gute Taktik. Sie behielten stets den Überblick. Sie waren bei jedem Schritt Herr der Lage und durften entscheiden, wohin die Reise geht. Ich war der Passagier, der die nächste Etappe antrat.

Ich konnte nicht länger sitzen. Rief mir abermals ins Gedächtnis: unauffällig sein! So bin ich an einem Brunnen vorbeigeschlendert. Habe ein, zwei Bilder gemacht. Dachte mir: Das sollte nun wirklich jeden Verdacht auflösen. Touristen begehen bekanntlich keine Straftaten.

Ich hatte das Zeitgefühl verloren. War die Übergabe vor einer Ewigkeit oder war es erst einen Wimpernschlag her? Die ganzen Leute, die mir entgegenkamen, machten mich noch unsicherer, als ich ohnehin schon war. Warum schauen die mich an? Mütze und Sonnenbrille kamen mir jetzt albern und auffällig vor.

Schließlich fand ich mich am Platz der Grundrechte wieder. Welche Bank meinte der Penner? Eine der Bänke, die etwas Sichtschutz bieten? Dort saß ein junges Pärchen, aber der Ort wäre perfekt. Ob ich immer noch zu früh bin? Ein paar Meter weiter war die nächste Sitzgelegenheit. Auch dort war ordentlich Betrieb. Mit Fahrrad waren dort ein Mann (Typ Pfandsammler: alte Kleider, schlechte Frisur, rote Haut) und eine junge Frau, die an ihrem Handy herumspielte (Typ Bürotante, die nicht so wirklich Erwachsenen werden will, sich deshalb farbenfroh wie ein Regenbogen kleidet).

Ich stellte mich auf eine Verzögerung ein. Ob sie sich gerade einen Joint drehen, um den Stoff zu testen? Also habe ich mich Wohl oder Übel, trotz warnendem Kribbeln in den Beinen, auf die einzige freie Bank gesetzt. Drehte meine Armbanduhr zurecht. Da saß ich wieder, diesmal in der prallen Sonne, aber mit dem Gefühl, dass ich im Regen stehen gelassen wurde. Erst waren 3 Minuten vergangen, dann 4 und schließlich 5.

Mein Geld hatte ich mittlerweile abgeschrieben. Den Kopf habe in die Hände gelegt, die Ellbogen auf die Oberschenkel. Es ist die Körperhaltung von Verlierern. Nur noch ein paar Minuten wollte ich warten, dann würde ich mir die Niederlage eingestehen.

Schon wieder Tauben! Diese hässlichsten aller Vögel spazierten um meine Füße, wollten mich wohl verhöhnen. Die haben mich sicher beobachtet, wie ich Zeit verschwendet habe, während sich der Typ mit meinen Drogen aus dem Staub macht. Die haben sich bestimmt köstlich über mich amüsiert. Ich trat nach ihnen. Diese miesen Tauben sollten die ersten sein, die meinem Rachefeldzug zum Opfer fallen, dann der Taubentyp, dann der Ladentyp.

Es war ein Lufttritt. Nichtmal die Viecher konnte ich erwischen. Sogar dazu war ich zu lahm.

Lesen Sie gerne?“

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich verneinte. So eine dämliche Nervensäge!

Den einen Artikel da müssen sie einfach lesen. Der ist so lustig.“

Die Frau mit dem zu bunten Outfit drückte mir eine der kostenlosen Zeitungen, die es nicht nur in jeder Stadt gibt, die auch überall ohne Umwege vom Briefkasten in die Papiertonne wandern, in die Hand. Ich sollte mal reinschauen. Sie mit einem aufdringlichem Tonfall: „Seite 3, der Artikel über die gute Bezahlung.“ Ich wollte protestieren, doch da war sie schon aufgestanden. Sie ist auf ihren Drahtesel gestiegen, hat ihm ordentlich Sporen gegeben. Mit der Zeitung in der Hand machte ich die universelle Was-soll-ich-damit-Bewegung. Ich warf das dumme Teil zur Seite.

Überraschung: Heraus fielen drei Geldscheine. Ich habe sie schnell aufgesammelt, dann verstohlen zu den Leuten geschaut, die auf die freigewordenen Bankplätze nachgerückt sind. Ob jemand was gemerkt hat?  Ja, das Ehepaar machte große Augen. Ich stand unverzüglich auf. Ging zur Shoppingmeile, drängte mich durch eine Menschentraube und stieg in die erste Straßenbahn, die in meine Richtung fuhr.