6. September, 10 Uhr 47

Ich bin gerade so angefressen. Eben kam der Chef vorbei, was er normalerweise nie so früh macht. Der Typ tauchte auf, mein siebter Sinn sagte, dass es jetzt einen Anpfiff gibt. Ich krampfte zusammen, baute eine innerliche Mauer auf.

Er hat schon das „Morgen“ in der herablassenden Art hervorgepresst, die sonst nur Ehefrauen in einer Ehe, die zum Zweck mutiert ist, zu hören bekommen. Ich mag es an sich nicht, wenn mir jemand mit Ermahnungen kommt. Ich bin vielleicht nicht so motiviert wie ein Auszubildender in der ersten Woche, aber ich hab die Arbeit immer richtig gemacht. Sollte die Kasse nach meiner Schicht nicht gestimmt haben, habe ich die Differenz stets ohne großes Murren aus meiner Tasche gezahlt. Was laut Internet so nicht rechtens ist. Plus-Beträge darf ich offiziell ja auch nicht behalten.

Der Tag begann also voll supi. Ich sitze hier auf heißen Kohlen. Dann kommt der und will mir einen Satz warme Ohren verpassen. Das war nicht die passende Kombination.

Er kam also an und legte in Gutsherrenart los. Er habe gehört, dass die Ware „unter aller Sau aussieht“, wenn ich sie rausgebe (das muss dieser alte Sack von gestern mit seiner dämlichen Zeitung gewesen sein). Die Sachen seien zerknittert und nass, „so geht das ja nicht“. Er hat dann was von Qualität und Ruf gelabert. Mir wäre fast Dampf aus den Ohren geschossen, so hat es in mir gebrodelt. Und außerdem sei der Umsatz hier so schlecht. Die anderen Kioske laufen um diese Uhrzeit viel erfolgreicher.

Es kam noch besser. Der alte Maas wurde sogar noch konstruktiv, welch Vorzeige-Vorgesetzter. Er nun ganz zahm: „Ich hab da mal ne Idee, Anders.“ Der Typ hat doch tatsächlich gemeint, dass ich den Leuten irgendwelche Zusatz-Produkte andrehen soll. Von wegen alle Raucher müssen doch auch Feuerzeuge kaufen (die hier Schwindel erregend teuer sind, 1 Stück 2 Euro), Lottospieler brauchen Kugelschreiber (ebenfalls Wucherpreise) und Trinker Kaugummis (na dann). Dass es diese Artikel in jedem anderen Laden oder sogar im 1-oder-noch-weniger-Euroshop für einen Bruchteil seiner Mondpreise gibt, blendete er wohl aus wie bei der Sonnenfinsternis. Da macht die Gewinnspanne gepaart mit Gier blind. Dass die Leute, die ans Kiosk gehen durchaus begrenzte Budgets haben, wollte er nicht gelten lassen. Maas mit wässrigem Mund und in seinem wirren Kauderwelsch zwischen Dialekten und gespieltem Hochdeutsch: „Se müssen das einfach gut rüberbringen, Anders. Das kriegense hin. Vielleicht gibt es ja ne Gehaltserhöhung.“

Ich würde mich ohnehin nicht als Verkaufstalent bezeichnen, aber das ist mir schlicht zu dumm. Den armen Leuten hier irgendwelchen überteuerten Schund anzudrehen ist dann doch unter meiner Würde. Die armen Schlucker abzuzocken, nur weil Maas den Hals nicht voll genug bekommt… da könnte ich ja gleich Versicherungsvertreter werden.

Normalerweise würde ich Ja-und-Amen-Herr-Maas sagen, aber heute ging es nicht. Wie gesagt, meine Nerven liegen blank. Als er mit mir seiner Rotz-Hand dann auf die Schulter geklopft hat, wurde es mir zu viel. Fass – Tropfen – übergelaufen. Da kam längst vergessene Wut hoch, alte Kriegsbeile wurden ausgegraben. All der Frust, den ich all die Monate gefressen habe, brauch raus wie bei einem Vulkanausbruch.

Ich habe geschimpft, gezetert und geschrien. Erst habe ich sein Kiosk schlecht gemacht. Der Standort sei halt bescheiden und das Kiosk verschmutzt (in anderen Worten). Alles, was keine Preisbindung hat, wäre viel zu teuer für die Leute hier. Dann habe ich mich über den Arbeitsplatz und das Vertrauensverhältnis hergemacht. Er bezahlt doch sowieso so mies wie nur möglich. Soll doch froh sein, dass er mich hat, ich klau wenigstens nicht (deshalb wurde wohl schon einigen meiner Vorgänger gekündigt). Und als Krönung: Dass ich meinen Job gut mache, und das mit der Kassendifferenz so auch nicht erlaubt ist.

Maas war noch überraschter als ich. Nachdem ich fertig gegeifert hatte, war zwischen uns nur noch betretenes Schweigen. Was soll man sich auch sagen, wenn man unverhofft aneinander gerasselt ist? Maas ist abmarschiert: „Ich muss weiter.“ Ein Abschied auf Zeit. Mir sehen uns heute Mittag beim Schichtwechsel sowieso wieder. Da freue ich mich schon drauf… nicht.

Vielleicht werde ich dann gefeuert. Im Moment ist es mir echt egal.

Naja, Ulli kommt mal wieder angetrabt. Der sollte für Ablenkung sorgen. Wieder mit einer Tüte voll Brot, der Typ ist echt zu gut für diese Welt.