4. September, 6 Uhr 32

Hier die Entwarnung, falls du dir schon Sorgen gemacht hast: Liebes Tagebuch, ich lebe noch.

Natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein. Wie könnte es auch? Mein Kopf dreht sich wieder wie ein Rührgerät. Es ist zum Verzweifeln. Wieso kann ich mir nicht einfach mal sicher sein? Wieso muss ich ständig alles hinterfragen? Nicht mal ein Selbstmord sorgt für Klarheit. Ich wälze mich im Ungewissen, weil ich mir ständig einrede, dass dieses oder jenes passiert sein könnte. Entweder bin ich gestern nach Plan nicht-gestorben, dafür ist stellvertretend dieser elende Verbrecher draufgegangen. Oder die Alternative: Es könnte ein Überspannungsschutz bei den Elektrogeräte eingesetzt haben und ich wurde lediglich ohnmächtig.

Schwacher Trost: Immerhin liegt es nicht mehr in meiner Hand. Ich habe meinen Trumpf gespielt, nun kann ich nur noch hoffen, dass er sticht. Der Wunschverlauf: seine Leiche wird gefunden, der Abschiedsbrief liegt daneben, die Polizei sichert das Kiosk, ich weiß Bescheid.

Ich hoffe, dass zwischen den verschiedenen Schritten nicht viel Wartezeit liegt. Es kommt mir gerade vor wie auf die Reaktion nach einem Bewerbungsgespräch zu warten. Nach dem Motto: Wenn sie mir schon absagen, dann bitte heute. Bei meinem Selbstmordkandidaten ist es genauso. Ich bete für Stunden, rechne mit Wochen. Mir gehen gerade so viele Möglichkeiten durch den Kopf, wie der Plan trotz eigentlichem Erfolg scheitern könnte. Wenn der Entdecker (toller Fund, da freut man sich) der Leiche den Zettel einfach entsorgt, weil er/sie/es keinen Stress mit der Polizei möchte? Wenn ein Haustier in all seiner Verzweiflung und mit knurrendem Magen auch noch den letzten Fetzen Papier frisst?

Ich würde am liebsten zu diesem verflixten Kiosk rennen und ein paar Tag-Nacht-Tag-Nacht-Schichten einlegen. Doch dann mache ich mich verdächtig. Genau das, was ich tunlichst vermeiden möchte.

Ich habe Angst, doch bin in einer Art freudiger Erwartung. Es ist ein Nervenkitzel, da kann ich nicht lügen. Die Sache nimmt mich gerade voll ein. Ich kann an nichts anderes denken. Wenn ich versuche mich abzulenken, bekomme ich so ein ungutes Gefühl. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass ich reagieren müsste, aber noch nicht weiß, wie und worauf. Ich muss trotz dieser Umstände und der inneren Unruhe meinen normalen Alltag beibehalten. Es muss alles so wie bisher laufen, ich will nicht auffallen.