3. September, 23 Uhr 21

Ich bin kurz davor, ins Bad zu gehen und mein altes Ritz-Ritz-Spiel zu wiederholen.

Ich zittere, meine Hände schwitzen und mein Kopf ist rot. Ich würde mich gerne mit ein paar Schlucken, ein paar Flaschen beruhigen. Mir den erforderlichen Mut antrinken. Doch wenn ich jetzt wieder trinke, bin ich so schlau wie vorher. Dann muss ich mich wieder fragen, ob ich so viel Alkohol nicht vertrage, phantasiert habe oder im Wahn war. Ich muss nüchtern bleiben, nur dann habe ich die Gewissheit – wenn ich denn überlebe.

Soll ich es wirklich tun? Auf der einen Seite steht das ultimative Wagnis. Auf der anderen Seite ein Verbrecher, den ich bestrafen will, dazu die Genugtuung, wenn es klappt und die Bestätigung, dass ich nicht spinne. Das sind gute Gründe, oder?

Andererseits…

Sind diese Gewissensbisse, die ich gerade bekomme, das Karma, das mich abhalten möchte?

Was, wenn es ein verzweifelter Familienvater war? Aber wie hoch ist diese Wahrscheinlichkeit schon. Welcher Mensch mit einer Seele, tut denn so was? Außerdem: Mit so einer Übung muss es ein Profi gewesen sein. So souverän, wie der mich ausgenommen hat, war das nicht das erste mal. Aber es war das letzte mal, wenn ich ihn stoppe. Er macht die Welt zu einem schlechteren Ort. Es ist ein Dienst an der Menschheit. Mir ging es sowieso schlecht, er wollte meine Lage noch verschlimmern. Er hat es verdient! Ich merke gerade, wenn ich an den Raub denke, werde ich wieder wild wie Rumpelstilzchen. Ich zieh das jetzt durch.

Noch einmal gut zureden: Ich werde nicht sterben, ich bin mir sicher.

All diese Tage der Vorwürfe, der Ängste, der Verzweiflung, ob ich den Verstand verliere. All die Tage sollen nicht umsonst gewesen sein. Ich habe jetzt die einmalige Chance mir Klarheit zu verschaffen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Die Sache mit den Zetteln, die am Tatort auftauchen, spielt mir in die Karten. So kann ich mich absichern wie mit einem Safe. Schließlich brauche Beweise, dass alles so abläuft, wie ich es mir zusammenreime. Andernfalls bleibt es wieder bei einer gewissen Ungewissheit.

Wenn die Sachen, die ich schreibe, bei den Toten gefunden werden, hilft mir eine Botschaft, die ich kontrollieren kann. Ich könnte einen offenen Abschiedsbrief schreiben, irgendeine Abrechnung mit der Gesellschaft, irgendeine Schmalzgeschichte. Aber wenn sie nicht veröffentlicht wird, tappe ich weiter im Dunkeln wie beim Stromausfall. Ich brauche eine Botschaft, die bis zu mir getragen wird.

Terror. Eine Bombendrohung. Entscheidung getroffen.

Wenn ich eine Bombendrohung im Namen von diesem Typen schreibe, dann muss die Polizei reagieren. In diesen Tagen ist damit nicht zu spaßen. Es muss ein Kommando anrücken oder zumindest ein Spürhund schnüffeln. Und da die beiden letzten Besuche der Polizei in unserem Haus schon für ordentlich Gesprächsstoff gesorgt haben, wird auch das in diesem Viertel nicht unentdeckt bleiben. Hier wohnen zu viele Rentner und andere Leute, die auch tagsüber zuhause sind, und einen Beobachtungsposten am Fenster haben. Die Buschtrommeln sind eingespielt, die tratschenden Kehlen geölt.

Es ist makaber, aber der einzige Weg, dass ich es sicher mitbekomme. Eine Bombendrohung im Viertel ist so ungewöhnlich, dass es endlich mal kein Zufall sein kann. Wenn ich die Bombensucher verpasse, wird die Neuigkeit von irgendeinem Klatschmaul zu mir ans Kiosk getragen. Das kann ein paar Tage dauern oder auch nur Stunden, spielt keine Rolle. Irgendwann kommt diese Stille Post, wenn auch über Umwege, an. Apropos Zeit. Ich darf auf keinen Fall ein Datum nennen. Ich habe ja keine Ahnung, wie lange es dauert, bis der Tote (der hoffentlich nicht ich sein werde) gefunden wird.

Die Nachricht muss ja kein Aufsatz sein. Je weniger Details, desto unsicherer ist die Polizei. Ich muss es nur überzeugend formulieren. Der Inhalt ist klar. Ich wollte nicht mehr. Die Gesellschaft ist schuld, ich will sie bestrafen. Ich habe dort und dort eine Bombe platziert. Ich bin schon tot, jetzt reiße ich Unschuldige mit. Ist doch immer das gleiche, bei diesen Amok- und Terror-Freaks.

Wo ist dort? Wohnhäuser kann ich direkt knicken. Wer glaubt schon, dass der Typ dort einfach einbricht und willkürlich eine Bombe hinterlässt? Es muss ein öffentliches Gebäude oder Geschäft sein. Es gibt die Turnhalle, die Schule, eine Apotheke, Bäcker und ein paar Supermärkte. Alles und nichts macht Sinn. Am einfachsten wäre die Schule, die hätte ich immer im Auge. Aber ich will das weder den Familien noch den Kindern antun. Das geht nicht. Ich möchte keine unschuldigen Kinder und deren Eltern verängstigen. Obwohl die Drohung nur fiktiv ist, wären die persönlichen Schäden unverhältnismäßig. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass sich Kinder nicht mehr in die Schule trauen und Müttern an jedem Schultag Haare ergrauen.

Die Turnhalle ist ebenfalls eine schlechte Wahl. Da kann eine Räumung und Sperrung ja ziemlich unauffällig vonstattengehen. Da müsste ich mich schon mit Klappstuhl und Picknicktisch vorne dran fläzen, damit ich den Einsatz dort nicht verpasse. Und dann mach ich mich mal so richtig verdächtig.

Supermärkte? Die halten die Sache doch bestimmt geheim, damit die Kunden nicht verstört werden und ausbleiben. Und wie lange wäre gesperrt? Müssen die da in jede Chipstüte und jede Dose Pfirsiche schauen? Wer weiß, wann ich da das nächste mal einkaufen kann. Ich habe keine Lust, meine Einkäufe für die nächsten Wochen quer durch die Stadt zu schleppen, weil sie erst den einen und, da sie im einen natürlich nichts finden, dann den anderen durchkämmen. Da schieße ich mir ins eigene Bein wie ein betrunkener Cowboy im Western.

Pling. Gerade ist die Glühbirne neben meiner Matschbirne aufgeleuchtet: die Idee. Die Lösung ist so einfach, so glasklar: das Kiosk.

Die Vorteile vom Kiosk, wenn man sie in der Situation so nennen darf, stechen alle anderen Lokalitäten aus. Es trifft keine Falschen. Dann sind die Personen, die Angst bekommen, im besten Fall nur ich und mein Chef. Ich weiß, dass nichts passiert, Cheffe darf sich gerne erschrecken. Vielleicht denkt er ja sogar, dass er persönlich bedroht wird. Möglicherweise nimmt er sich dann vor, ein besserer Mensch zu werden und zahlt mir mehr. Das ist wohl Wunschdenken, realistischer ist, dass er weniger verdient und mir deswegen auf die Nerven geht. Das kleine Verlies wird schnell überprüft sein. Wenn die Leute für ein paar Stunden keine Zigaretten oder keinen Alkohol kaufen können… Pech gehabt.

Der Standort ist abgehakt. Aber wie soll ich so ein unwichtiges Ziel glaubhaft begründen? Hmm.

Der Grund ist, dass er ein Herzstück vom Viertel treffen will. Das ist das Kiosk vielleicht nicht, aber das muss ja die Polizei nicht wissen. Sicherheitshalber schreibe ich noch dazu: Kiosk, damit sich niemand sicher fühlt, weil es jeden treffen könnte. So machen das Terroristen doch auch.

Ob ich es mit dieser Version auf die Titelseiten diverser Zeitungen und Online-Portale schaffe, wage ich zu bezweifeln. Aber ich werde es auf jeden Fall mitkriegen, wenn dort nach einer Bombe geschnüffelt wird. Bei dem Kiosk rücke ich mich zwar direkt in den Mittelpunkt und werde vielleicht auch wieder mit der Polizei in Kontakt treten müssen, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.

Wenn die letzte Nachricht, die ich verfasse tatsächlich beim Toten gefunden wird, muss ich sehr vorsichtig sein. Das heißt: keine Fingerabdrücke oder sonst was. Leider habe ich keine Zeit mehr, großartig andere Schriften zu üben. Ich werde die Bombendrohung einfach mit der linken Hand schreiben. Hoffentlich wird niemand eins mit zwei zusammenzählen. Nämlich die alte Nachricht mit dieser. Und bei so einem Fall, der sich als Ente herausstellt, wird man weder Forensiker noch Schriftexperten anrücken lassen.

Jetzt geht es an die Praxis wie ein Arzt bei Dienstbeginn: Vom Block nehme ich ein Blatt von hinten, schreiben werde ich mit Handschuhen und der linken Hand.

Zurück bei der Theorie herrscht wieder Panik. Ich bin gerade im Begriff mich umzubringen. Nochmal die Adern kann ich nicht. Dazu bin ich zu klar im Kopf und nicht verzweifelt genug. Das ist mir zu gruselig. Ich brauche eine schnelle Methode. Wie kennt man es aus den Filmen… Toaster, Elektroschock.

Wir sind im echten Leben, doppelt hält besser: Fön und Toaster. Falls ich mich jetzt umbringe und jemand dieses Tagebuch findet, wird man mich für verrückt halten. Hoffentlich kann man vom Himmel herunterschauen. Ich würde gerne erfahren, welche Krankheit mir diagnostiziert wird.

Ich bin kurz davor. Ich liege wieder in der Badewanne. Mein Herz hämmert bis in den Hals. Es wird nicht schief gehen? Mein Autounfall vor Jahren, der Unfall im Bad, der Unfall bei der Post…

Mir wird nichts passieren! Mir wird nichts passieren!

Alle wollen in den Himmel, aber niemand will sterben. Nur noch ein paar letzte Zeilen.