Bis in die Nacht zu fahren hatte etwas Gutes: Als wird in Karlsruhe angekommen sind, war der Betrieb gehörig heruntergefahren. Die Belegschaft war auf Partygänger und Kriminelle der kleinen und mittleren Größenordnung geschrumpft.
Wie soll es anders sein. Kaum in Karlsruhe, ereignet sich der Zwischenfall. Da schafft man es 500 Kilometer und auf den letzten 5 kommen dann die Komplikationen. Da saß ich mir nichts, dir nichts in der S-Bahn, kam so ein Freak an und wollte mir CDs verkaufen (unter anderem von Nana!). Ich wollte doch nur einsam sein. Ich hatte nicht nur kein Interesse, ich habe auch betont abweisend reagiert. Aber der alte Hund war verbissen. Nachdem er mir die CDs nicht aufschwatzen konnte, hat er versucht, mir wenigstens ein paar Münzen aus dem Kreuz zu leiern. Er denkt wahrscheinlich, dass er in einem früheren Leben Anwalt war. Das Plädoyer war laut und lange, er ging mir gehörig auf die Nerven. Beinahe in Zeitlupe habe ich am Schluss seine versiffte Hand auf mich zukommen sehen. Er konnte sein „komm schon, Mann“ nicht beenden. Ich habe gefaucht wie eine scheue Katze. Deutschsprachige jeden Alkoholpegels verstehen ein gepflegtes „Hau ab, du Penner oder es knallt!“ Vorgetragen mit aufgerissenen Augen, versteht sich. Das reichte. Brummelnd ist er mit seiner Nana-CD ausgestiegen.
Ich wünschte, er hätte noch eine Haltestelle ausgehalten, wäre statt am Kronenplatz am Durlacher Tor ausgestiegen. Das hätte mich dann nämlich nicht an meine speziellen Freunde von dort erinnert. Diese Episode habe ich in den letzten Tagen so schön ausgeblendet. Jetzt hier, quasi am Ort des Geschehens, war ich wieder mittendrin.
Ich frage mich, ob die Idioten nach mir suchen. Ob sie ihren Verlust einfach abschreiben, als wäre es ein richtiges Geschäft. Ich habe mir eingebildet, in einer dunklen Ecke ein paar von denen stehen zu sehen.
Gut, aber zurück zum Heimweg. Mein Herzschlagfinale war der Weg aus der S-Bahn zum Haus. Auf den letzten Metern war es ein Gefühl wie die Warterei als Grundschulkind vor der Bescherung an Weihnachten. Die ungewisse Spannung: Was kommt denn jetzt? Wird es gut oder schlecht?
Als ich den Schlüssel in die Haustüre gesteckt habe, ist das Licht im Flur angegangen. Das heißt: jemand kam herunter. Wenn man ganz unten ist, kann man schlussfolgern: jemand kommt mir entgegen. Mein erster Gedanke war, dass es bestimmt Anna ist, dass ich mich umdrehen muss. Ich wollte gerade umdrehen, mich in der Gasse neben dem Haus verstecke. Bevor ich zum Sprint ansetzte ist mir mein Pakt mit dem Schicksal eingefallen. Die Würfel rollten.
Also Stufe für Stufe hoch. Die Schritte klangen noch weit entfernt. Ist es Anna? Dann Wenn es nicht Anna ist, muss ich Sicherheitsabstand halten. Alle paar Schritte das Treppenhaus hochgelukt, noch nichts zu erkennen. Sekunden der Ewigkeit, riesige Stufen.
Endlich konnte ich etwas sehen. Die Würfel sind gefallen.
Männerstiefel, ein mir unbekannter Mann kam mir entgegen. Er musterte mich misstrauisch, ich ihn ebenso. Wir nickten uns zu. Es ist der Pakt zwischen Männern, dass Waffenruhe herrscht. Eine subtile Friedenserklärung, die sonst keiner sieht.
Nachdem ich die Wohnungstür geschlossen hatte, fühlte ich mich befreit, wie sich mit Schnupfen nach Stunden ohne Taschentuch endlich die Nase putzen zu können. Ich atmete tief durch. Stand in meinem Flur, vom einen Moment auf den anderen war ich komplett ausgelaugt. Die Anspannung hat sich zwar aufgelöst, doch statt Erleichterung nur Erschöpfung. Dann hieß es Prioritäten setzen. Erstmal Rucksack runter, dann Socken aus, Hose von den Beinen gepellt.
Bett.
Dort lag ich erst mal. Fühlte mich wie Falco: Die ganze Welt dreht sich um mich.
Ich habe mir meine Ruhepause gegönnt, jetzt steht wieder Arbeit an. Ich würde mich am liebsten wieder hinlegen und für die nächsten zwei Tage schlafen. Doch es hilft nichts. Da ich ohne Kontakte in der Wohnung angekommen bin: Alex.
Ich hätte mich gerne noch von Alex verabschiedet. Es fühlt sich irgendwie nicht richtig an, sie ohne den Hauch einer Ahnung vergehen zu lassen. Doch an die Abmachung, die ich mit was oder wem auch immer geschlossen hab, halte ich mich lieber.
Ich finde, damit schenke ich Alex einen noblen, ja fast poetischen Abgang. Daran kann sich auch ihre Familie aufbauen. Sie können sich daran ergötzen, welch edles Gemüt die Gute doch hatte. Nach einer Periode der Trauer folgt die verzweifelte Hinterbliebene ihrem Liebsten ins Jenseits.
Nachdem diese Ziege ins Gras gebissen hat, ist Bremen vom Unkraut befreit.