Das Telefon klingelte und klingelte. Mit jedem Tuten, wurde ich selbstbewusster. Es geht niemand ran, niemand zuhause. Ich war mir sicher, ich konnte gleich mit dem guten Gefühl auflegen, es versucht zu haben. Mit jedem Tuten stieg die Hoffnung und der Wunsch, dass niemand antwortet. Ich zählte herunter. Noch fünf mal dieses beruhigende Geräusch, dann kann ich auflegen. Dann habe ich lange genug läuten lassen.
Vier.
Drei.
„Hallo?“
Ich bekam kein Wort heraus.
„Hallo? Wer ist da?“
Ich glaube, ich muss nicht schreiben, dass es kein entspanntes Gespräch zwischen zwei alten Freunden war. Ich muss es Alex lassen, sie zeigte keine Regung. Sie ließ sich nichts anmerken. Sie tat nicht überrascht, dass ich anrief. Sie klang nicht traurig, weil Lars tot war. Sie war einfach am Telefon. Meine Fragen hat sie kurz und trocken beantwortet wie ein Tennisprofi. Schwung geholt, und die Gesprächsführung ging zurück an mich.
Wie es ihnen geht. Was sie noch gemacht haben. Dass es gut war, dass wir uns ausgesprochen haben. Ich fahre nun zurück. Treffen mit Anna.
Ihre einsilbigen Antworten haben das Gespräch, das zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Minuten dauerte, zu einer gefühlten Ewigkeit gemacht. Im Wartezimmer vom Zahnarzt wäre die Zeit schneller vergangen. Sie wollte einfach nicht mit der Sprache herausrücken, all das Bohren war vergebens. Langsam war ich unsicher, ob mein Freitod im Badezimmer wirklich funktionierte. Vielleicht wurde ich nur ohnmächtig?! Ich habe nur darauf gewartet, dass Lars mit seiner übertrieben freundlichen Stimme ruft: Schaaatz, kommst du zurück ins Bett?!
Das wäre die ultimative Ohrfeige für mich gewesen.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Also musste die Brechstange ran: Ob ich Lars kurz sprechen könnte.
Sie: „Geht nicht.“
Ich: „Bitte, es ist wichtig.“
Sie: „Ihm geht’s nicht gut.“
Ich: Was denn los sei, muss ich mir Sorgen machen.
Sie: „Ja, musst du. Ich kann jetzt nicht mehr reden.“
Sie war wohl zu neugierig, um direkt aufzulegen. Sie wollte meine Reaktion mitkriegen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht einen zufriedenen Seufzer rauszulassen. Mitleid ist ein gönnerhaftes Gefühl. Da sitzt der andere am längeren Hebel, kann den armen Tropf, dem es schlecht geht, von oben herab aufmuntern. Ich habe also geheuchelt, dass mir das leid tut, ob ich irgendwie helfen kann. Was überhaupt los sei.
Sie: „Nein, Anders. Lars ist einfach nicht aufgewacht. Ich muss jetzt. Tschüss.“
Und dann war die Leitung tot. Endgültig. Tot wie Lars. Ich nahm mein Handy, suchte nach dem Namen und starrte ihn an. Lars. Kein Nachname, kein Hinweis, woher ich ihn kenne. Lars.
So sitze ich jetzt auf einer Bank aus Draht. Schaue in jedes Gesicht das vorbeigetragen wird, die Eigenschaften landen im besten Fall im Unterbewusstsein. So richtig stolz auf mein Werk bin ich gerade nicht. Ich muss an die guten Tage mit Lars denken. Die Morgen in der Schule, die Mittage in der Stadt, die Abende auf der Couch, die Nächte in den Bars.
Ich bin tatsächlich traurig, während ich so in Erinnerungen schwelge. Lars war ein guter Freund. Das war das Problem. Es ist ein guter Freund gewesen, aber nicht geblieben. Er hätte bei Alex Annäherungen standhaft bleiben müssen. Bruder vor Luder. Wo die Liebe hinfällt ist eine billige Ausrede. Die benutzen wahrscheinlich auch Cousin und Cousine, um ihren Trieb zu rechtfertigen. Es gibt einfach Grenzen des guten Geschmacks, die zu achten sind. Lars war in diesem Fall ein Invasor, der mich durch seinen illegalen Grenzübertritt zur Reaktion gezwungen hat.
Wieso hat er bloß mit Alex angebändelt? Er hätte sich doch zumindest meinen Segen abholen müssen.
Ist doch jetzt eh zu spät.
Alex denkt bestimmt wieder nur an sich. Die klang nicht mal verheult. Wahrscheinlich blendet sie den Abschiedsbrief komplett aus. Vielleicht hat sie ihn schon zerrissen, damit ihn niemand findet. Die schwarze Witwe wird sich als armes Opfer darstellen.
Lars hätte die Abmahnung verdient, Alex die Kündigung. Der Stand der Dinge ist unbefriedigend. Je länger ich nachdenke…
Es fühlt sich so an, als wäre meine Arbeit noch nicht getan. Ich sitze zwar mit gepackten Sachen am Bahnhof, aber ich werfe meine Pläne über Bord. Alex hat mir nicht mal bei dem Anruf die Wahrheit gesagt, sie hat mich selbst in dieser Situation angeflunkert. Das lasse ich mir nicht bieten wie ein beleidigter Auktionator.