28. August, 11 Uhr 13

Eben war Frau Mikenz da. Sie ist nicht die sympathischste Person, aber sie sorgt immer wieder für Unterhaltung. Sie ist ein Zeitvertreib. Während sie da ist, vergehen 20, 30 Minuten wie im Flug. Wenn sie weg ist, bin ich froh. Insgeheim sehne ich jedoch ihren nächsten Besuch herbei. Sie hat immer etwas fieses auf den Lippen. Und ich rede nicht von Herpes.

Sie sieht nicht gut aus, nicht schlecht aus, sondern einfach nur nicht richtig. Sie ist etwa 1 Meter 60. Frisiert sich schlecht gefärbte Haare zu einem unmöglichen Turm. Ein Rot, das mich an rostige Türen erinnert. Bei ihrer Fönfrisur mit Haarsprayüberdosis erhöht sich ihre Körpergröße um geschätzte 17 cm. Sie wirkt, als ob sie nur alle 2 Tage duscht – nie an den Tagen, an denen ich sie sehe.

Ich bin vielleicht voreingenommen, weil Ulli sie als Tratschtante bezeichnet hat, aber mein Gott, die Alte kaut wirklich gerne Ohren. Sie macht vor niemandem im Viertel Halt. Ich will gar nicht wissen, was sie alles über mich erzählt. Vielleicht… nee, lieber erst gar nicht damit beschäftigen. Das endet nur darin, dass ich darüber philosophiere, was an mir alles nicht stimmen könnte. Heute hat sie wieder gelabert…

Es ging direkt nach der Begrüßung los: Wie schlecht die Müllabfuhr doch ist, weil die überfüllten Mülltonnen nicht ohne Kollateralschmutz geleert werden. Wie teuer doch alles geworden ist, und dass ich die Preiserhöhungen doch zugegeben soll. Es war so viel Blabla. Bei ihren Vorträgen wären Werbepausen ideal. Ich schalte nach ein paar Anekdoten meist ab. Auch diesmal war ich nach dem dritten Skandal im LaLaLand, träumte von meinem Mittagessen. Sandwich: Aufbackbrötchen aufgeschnitten, beidseitig Käse, Zwiebeln, Oliven, Ketchup, Pfeffer. Doch dann drangen einige Schlagworte ganz deutlich durch. Mann, überfahren, gestern, Regen. Ich war wieder da. Sie meinte: „Die Leute sollen hier doch nicht so rasen. Das war mal ne ruhige Gegend hier bis die ganzen Ausländer kamen. Und jetzt werden hier die Leute totgefahren.“ Das musste ich noch mal genau hören. Ich habe nachgefragt, wer da gestern Nacht überfahren wurde.

Sie: „Das war ein alter Schulfreund von mir. Das war der Willi Schkeuditz. Das war schon früher ein ganz armer Tropf. Bei dem seiner Mutter, Sie, bei dem seiner Mutter hätten Sie auch gesoffen, sag ich Ihnen. Den sieht man jetzt hier Pfand sammeln. Dem Willi seine Familie hat den ganz früh schon fallen lassen. Ich hab mich ja immer um den Willi gekümmert, aber Hilfe wollte der ja nicht. In die Post hat er sich noch. Mit all seine Wunden. Paar Münzen, mehr hatte der nicht. Ich sammle mein Münzgeld immer in einer Glasflasche. Wenn die voll ist, da gönne ich mir was, das sage ich Ihnen.“ Ich musste wieder nachhaken: Wo, wann, wie? Und die alte Mikenz hat wieder gelabert…

Nachdem die Tratschtante weg war, habe ich wieder den Karlsruher Morgen durchforstet. Dort war nichts von einem ähnlichen Unfall zu finden. Ich hatte Herzrasen. Da waren wieder diese Zufälle. Es waren wieder zu viele Zufälle.

Sowohl Zeit als auch Ort und Person erinnern ganz stark an mein Abenteuer gestern Nacht. Der Penner, dem ich das Geld in die Hand gedrückt habe, muss dieser Willi gewesen sein. Die Hakennase, der enorme Bauch, das eingefallene Gesicht, die vernarbte Stirn: Die Personenbeschreibung, die ich aus Frau Mikenz quetschen konnte, passt wie die Faust aufs Auge. Der gute Mann wurde bei der Post gefunden. Er hatte Wunden, Prellungen und Brüche. Um mal ein bisschen Contra-Bass zu spielen: Er könnte auch verprügelt worden sein. Aber sie sagt, dass ihn jemand angefahren hat. Ihre Quelle ist jemand von der Familie. Deren Informationen stammen wiederum von Polizei und Notarzt.

Nun stellt sich für mich die Frage: Habe ich etwas mit der Sache zu tun? Es weckt Erinnerungen an den Selbstmord meiner Nachbarin. Gestern habe ich zwar nichts getrunken, aber einen kleinen Filmriss habe ich trotzdem.

Der Zwiespalt reißt und zieht an mir. Ich mache mich verrückt, bis ich mich wieder beruhige. Erst wild in eine Richtung, dann besänftigend rückwärts. Erst: Ich bin schuld. Dann: Ich kann gar nicht schuld sein. Teufel links, Engel rechts. Es hat vielleicht etwas mit mir zu tun, vielleicht aber auch nicht.

Jetzt kann ich einen Besuch beim Arzt endgültig ad acta legen. Wer weiß, was die der Polizei oder einander stecken. Dann wollen die mich am Schluss noch als Zeugen. Schweigepflicht ist schön und gut. Aber nur der zweite die Silbermedaille. Mein Schweigen ist goldrichtig.

Im günstigsten Fall wäre ich ein Zeuge, weil ich dem Typen doch Geld gegeben habe. Tatverdächtig, wäre realistischer. Ich habe es im Gefühl, dass ich in der Geschichte hänge.

Was ist denn nur los hier? Sollte mein Leben in Karlsruhe jetzt auf Dauer so abgefahren sein wird, muss ich scheinbar doch zurückziehen. Auch in Bremen könnte ich zur Not ein Kiosk besetzen.