25. August, 16 Uhr 50

Jetzt kann ich durchatmen. Die Polizei hat nicht nur meine Wohnung verlassen. Die Streifenwagen und der Krankenwagen, die vor dem Haus standen, sind auch weg. Ich sehe sie vom Fenster aus jedenfalls nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn ist einfach die beste Medizin. Damit wird auch klar, dass die panische Putzaktion in der Badewanne zum Glück unnötig war.

Vorsicht ist aber besser als Nachsicht. Ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Trotzdem werde ich das Badezimmer bei der nächsten Gelegenheit, also heute Abend oder vielleicht morgen oder auch etwas später, grundreinigen. Es ist immer noch Blut in der Badewanne. Blut in der Wanne… das klingt wie eine deutsche Black Metal Band. Mit ein bisschen Abstand, damit meine ich räumlichen und zeitlichen, sieht man die roten Verfärbungen deutlich. Abgesehen davon, dass es eklig aussieht und verdächtig ist, will ich die Wohnung bei meinem eventuellen Auszug nicht mit solchen Flecken verlassen. Da wäre meine Kaution weg, und die rechne ich zu meinem Vermögen.

Aber zurück zu diesem Irrsinn, der sich in meinen Kopf, in meiner Wohnung und in der Wohnung über mir abgespielt hat. Ich muss mich jetzt Fakten sammeln und die Erkenntnisse einordnen. Statusanalyse: Die Frau über mir hat sich umgebracht. Ich habe versucht mich umzubringen. Es war die gleiche Methode, es war der gleiche Zeitpunkt. Sie ist tot, ich lebe. So viel weiß ich.

Jetzt geht es ans Spekulieren. Sollte sie nicht ermordet worden sein, war ich höchstwahrscheinlich die letzte Person, mit der die Frau Kontakt hatte. Ich habe es der Polizei nicht erzählt, weil ich nicht verdächtig wirken und sie schnell aus der Bude haben wollte. Doch ich bin mir sicher: Sie hat mir die Tür aufgehalten, als ich von der Party heimgekommen bin. Ich weiß noch, dass ich richtig verärgert war, als ich durch die Haustür wollte. Ich hatte vor, sie mit theatralischem Schwung zu schubsen.

Dann habe ich große Augen gemacht. Ein Griff ins Leere.

Eine fremde Hand lag für den Bruchteil einer Sekunde unter meiner. Es war nur ein Augenblick, bis sie zurückschnellte. Jemand hat die Tür vor dem Schließen gestoppt. Die Tür wurde geöffnet, das Gesicht der Frau war vor meinen. Ich habe mich richtig erschrocken, sie hat sich anstecken lassen oder war selbst überrascht.

Wie man das so unter Nachbarn hält – wir haben einen kleinen Smalltalk gehalten. Sie: „Oh, bin ich erschrocken.“ Ich: „Und ich erst.“ Sie meinte, dass sie genau vor mir reinkam, und mir die Schlüssellochsuche ersparen wollte. Sie war kurz angebunden, wie man es nachts eben ist, wenn man sich mit einem betrunkenen – angetrunkenen! – Mann unterhält. Sie war freundlich, wollte die Situation allerdings schnell beenden.

Ich bin mir sicher: Sie war allein. Da war kein Mann vor ihr, der schon ein Stückchen höher auf der Treppe stand. Den hätte ich gesehen. Oder zumindest gehört, so hellhörig, wie das Treppenhaus ist. Seine Freundin oder Geliebte lässt man ja auch nicht einfach unten stehen, wenn man hört, dass sie Angst hat – und sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und Streit oder so was gab es auch nicht, so hellhörig wie das Haus ist, hätte ich das mitbekommen. Ihre Stimmung überhaupt nicht selbstmordgefährdet, oder wie man das ausdrücken soll. Sie war für die Umstände richtig freundlich, und hat nicht bedrückt gewirkt. Einfach wie eine Frau, die froh war, nach einem langen Tag wieder zuhause zu sein. Klar, sie hätte mir wahrscheinlich nicht gesagt, dass sie sich jetzt umbringen wird. Aber Menschen, die sich bald das Leben nehmen, müssen doch irgendwie anders wirken. Wobei… ich habe mich sicher auch nicht wie ein Selbsttodeskandidat benommen.

Es ist wirklich seltsam.

Im Bad ist mir etwas aufgefallen, das sie Sache noch verwirrender macht. Auf dem obersten Blatt von meinem Block fehlt ein Stück. Das fehlende Stück hat Größe und Form wie das Beweisstück in der Tüte. Die Schrift sah meiner so ähnlich. Und ich habe wahrlich keine typische Mädchenschrift. Außerdem lag im Bad noch der Kugelschreiber. Ein Kugelschreiber, der grün schreibt. So viele Zufälle kann es nicht geben. Damit ist fast erwiesen: Es war meine Schrift. Der Abschiedsbrief stammt von meinem Block. Alex ist meine Alex.

Nun stellt sich die Frage: Wie zum Teufel kommt das Blatt von meinem Block mit meiner Handschrift aus meinem Badezimmer unter ihre Badewanne?

Ich habe sie nicht umgebracht! Vielleicht ist jemand bei mir eingebrochen und dann hoch zu ihr. Oder sie war so ein Druffi, dass sie bei mir eingebrochen ist und den Zettel mitgenommen hat. Vielleicht hat sie mich beim Einbruch in der blutigen Badewanne liegen sehen. Dann hat sich ein Beispiel an mir genommen: Das mach ich jetzt auch, voll die knorke Idee.

Und nun? Muss ich zur Polizei gehen? Aber was soll ich denen denn sagen? Dass die Frau, die ich gestern Nacht noch gesehen habe, die mit mir alleine im Treppenhaus war, jetzt zufällig tot ist. Dass ich zufällig eine Wunde hab und eine blutverschmierte Badewanne. Dass zufällig ein Teil mit meiner Schrift in ihrer Wohnung lag? Ach, Alibi? Nö, hab ich nicht. Aber keine Sorge, hab mich besinnungslos gesoffen. Damit mach ich mich nur verdächtig und halse mir Ärger auf, den ich nicht haben will. Am Schluss werde ich angeklagt wegen dieser Sache. Nein, danke.

Soll ich irgendjemandem davon erzählen? Eine zweite Meinung wäre nicht verkehrt. Aber wer stempelt mich dann nicht als verrückt ab? Das klingt alles nach Wirrkopf und/oder Mörder. Ich muss die Sache mit mir selbst regeln. Gut, dass ich heute, und eigentlich immer, genug Zeit zum Nachdenken habe. Ich muss meine Gedanken ordnen. Dann kann ich diesen ganzen Wahnsinn vielleicht lösen wie ein Knoten.

Nichtsdestotrotz: Ich muss der letzte Mensch gewesen sein, der vor ihrem Tod mit ihr gesprochen, sie gesehen und berührt hat. Das ist gruselig.

Um ehrlich zu sein: Aufschreiben war nicht wirklich hilfreich. Es hat die Sache weder entwirrt noch andere Sichtweisen gezeigt. Ich verstehe immer noch Bahnhof und sehe Fragezeichen. Alles und nichts macht Sinn. Ich kann mir einfach nicht erklären, wie so ein großer Zufall… zufällig sein kann. Ich würde ja sagen, dass ich den Verstand verliere. Das wäre die einfachste Erklärung. Jedoch wissen Verrückte nicht, dass sie verrückt sind. Das ist doch eine anerkannte Binsenweisheit. Also fällt das weg – zumindest vorerst.

Ich glaube inzwischen, dass ich den Freitod versucht habe. Nach all dem Trubel ist das doch voll verständlich. Ich bin nicht so eine Maschine, wie ich gehofft habe. Die Trennung von Alex und die ganzen Rückschläge, das war eben nicht so einfach.

Genug Stress für heute.

Für den Rest des Tages ist die Fernsehzeitschrift mein Veranstaltungsplaner. Ich brauch Entspannung, geistig und körperlich. Dann wird bestimmt klar, dass ich nicht selbstmordgefährdet bin, dass es nur ein kleiner Nervenzusammenbruch war. Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden und in der Ruhe liegt die Kraft.