22. Oktober, 21 Uhr 26

Verletzungen sind eine schöne Begründung, um sich über Regeln hinweg zu setzen. Ich bin einfach ein wenig früher vom Kiosk gegangen. Hab zum Chef gemeint, dass ich zum Arzt muss. Arzttermin: die wohl beste und zugleich nervigste Erfindung des Gesundheitssystems. Er laberte von einem Attest, aber bis morgen hat der das bestimmt wieder vergessen. Ich kam mir in dem Moment vor wie in der Schule.

Da ich früher gegangen bin, war es wie ein geschenkter Vormittag. Da konnte ich es mir noch gemütlich machen. Es gab meinen Klassiker: Pizza und Bier. Doppelt Käse, dazu ein paar Dosen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Entsprechend entspannt ging ich meine Besorgungen erledigen. Mit einem gewissen Pegel läuft es sich chillaxter durch überfüllte Straßen. Ich werde nicht lügen, wirklich sicher habe ich mich nicht gefühlt. Ich war überzeugt, dass ich beobachtet wurde. Von wem kann ich nicht sagen. Aber mich hat dieses Gefühl nicht verlassen. Ich musste mich ständig umschauen, schließlich weiß man nie, wann jemand von hinten kommt.

Aber die Sorgen waren nach genügend Schlucken auch egal. Ich hatte den Equalizer dabei. Nach einem kurzen Gespräch mit meinem Flachmann bin ich immer ausgeglichen. Das ist Therapie nach meinem Geschmack.

Mit reichlich Kaugummi war es in der Apotheke auch kein Problem. Einfach easy das Rezept gezeigt. Die Alte im Kittel hat mich gemustert, aber ohne Widerworte die beiden Packungen rüberwachsen lassen wie der Efeu des Nachbarn. Dann hat sie mich noch ermahnt, nicht dieses, nicht jenes. Kindergarten.

In der Apotheke kam mir gleich noch eine gute Idee: Schmerztabletten sind cool, aber die Lage muss ich ausnutzen.

Kaugummi nachgelegt.

Ich fand einen Allgemeinarzt in einem ziemlich heruntergekommenen Haus. Dr. Lautzer, das klang vertrauenswürdig. Wobei ich eigentlich hoffte, dass er genau das nicht war. Vielversprechend: Der Typ wohl nicht ganz so viele Patienten. Für meine Zwecke genau richtig, der Onkel Doktor will bestimmt einen zufriedenen Stammkunden aus mir machen.

Während der paar Minuten im Wartezimmer, habe ich mir meine Geschichte zurecht gelegt.

Kaum im Untersuchungsraum, habe ich angefangen zu quasseln. Hab ihm mein hartes Schicksal geschildert. Gemeint, dass ich nicht schlafen kann. Dass ich alles schon versucht hätte. Ich zählte Sport, Ernährung, Meditation, Tee und pflanzliche Mittel auf. Ich habe mir fast einen Knoten in die Zunge geredet, so sehr habe ich mit dem Zaunpfahl gewunken, damit ich auch ja ein starkes Mittel bekommen würde.

Mitten in meiner Lügengeschichte hat er mich mit einer Handbewegung gestoppt. Die erhobene Hand kommt nur von Leuten, die sich überlegen fühlen. Ich sah mich schon am Ende meiner wilden Reise, so als würde Münchhausen auf seiner Kugel gegen eine Wand prallen.

Die vielen Worte hätte ich mir sparen können. Statt nachzufragen, weshalb ich nicht schlafen konnte, wollte er wissen, ob ich vor Kurzem überfallen wurde. Scheinbar ist mein Fall durch die Lokalpresse gegangen. Ich: „Ja.“ Von da an war es kein Arztbesuch mehr, eher Interview. Der Arzt war jedenfalls mehr an dessen Details des Raubes denn meinem Zustand interessiert.

Ich spielte mit. Schließlich braucht jeder König sein Volk, das ihn anbetet. Sollte der Arzt doch zum Hofnarr werden. Also haben wir uns über den Fall unterhalten. Viel ehrlicher war ich dabei nicht, aber der Onkel Doktor war Feuer und Flamme.

Wir haben uns anschließend über die Kriminellen, die sich in der Stadt ausbreiten, ausgelassen. Als ich befand, dass man die alle eliminieren sollte, er: „Endlich einer, der es mal sagt.“ Wir stachelten uns gegenseitig an. Er war genervt über seinen Heimweg. Er: „Hier kann man nicht mal mehr in Sicherheit zur Straßenbahn gehen. Die Sache mit den Überstunden erledigt sich so von ganz alleine.“

Wir nickten uns zu.

Ich erzählte ihm vom finnischen Suizidkönig: „So einen wie Kunnigas Hsemurha bräuchten wir hier. Vielleicht lass ich mich umtaufen, mich haben die schließlich nicht klein gekriegt.“

Er stimmte mir zu. Es gefiel mir, gelobt zu werden.

Besser hätte es nicht laufen können, der Besuch hat sich gelohnt. Er meinte: „Falls sie ein neues Rezept brauchen: einfach anrufen. Falls es was Neues zum Fall gibt, bitte ebenfalls.“

Ich bin mit einem Grinsen gegangen, er sah auch zufrieden aus.

Auch dieses Rezept habe ich direkt eingelöst. Andere Apotheke versteht sich. Die Wachtel dort war genau besserwisserisch.

Ich habe nun einen netten Vorrat an Schlafmitteln. Wer weiß, wozu ich die kleinen Pillen noch gebrauchen kann. Zwinker, Zwinker.