18. August, 9 Uhr 33

Ich bin echt beknackt. Eigentlich schreibt man bei Tagebüchern nur über den vergangenen Tag, oder? Naja egal, dann ist das eben der Vorspann. Ich muss den Mist einfach nochmal jemandem erzählen, und wenn ich es nur selbst bin. Ich bin ja auch ein jemand.

Weiter geht es mit der Geschichte bis zum Jetzt. Das mit dem Herausfinden und so war vor ein paar Wochen. Auch bei meinen Eltern ist mir die Decke recht schnell auf den Kopf gefallen. Erstens ist es nicht schön, aus der IKEA-Tasche zu leben, zweitens war das Gefühl morgens von seiner Mutter Frühstück gemacht zu bekommen und abends gemeinsam Fernseher zu gucken… sagen wir mal surreal.

Diese Übergangslösung musste ich so schnell wie möglich hinter mir lassen. Ich habe mich recht spontan für die neue Stadt entschieden. Ich wollte ein, zwei Bundesländer Sicherheitsabstand zu meinem alten Leben haben. Da wurde der Kreis der Möglichkeiten schon etwas kleiner. Dann natürlich eine Gegend, wo es sowohl Chancen auf nen neuen Job als auch freie, bezahlbare Wohnungen gibt. Da wird das Feld zügig überschaubar. Das gute, alte Deutschland ist gar nicht so groß.

Es war so weit, Koffer gepackt, bei den Eltern und Freunden auf Tränendrüse gedrückt, damit ich nicht zu diskutieren brauchte.

Die neue Stadt: Eine Wohnung hatte ich bald gefunden, da waren nur ein paar Tage Hotel notwendig. Naja, es war ein Hostel, wir wollen bei den Fakten bleiben. Ich verstehe den Unterschied da eh nicht. Ist Hostel nur der moderne Begriff für eine Jugendherberge? Ich frage mich immer, ob ich menschenfeindlich bin, oder ob Leute, die sich mit Fremden diese Mehrbettzimmer teilen, einfach verrückt sind. Ich wählte selbstredend ein Einzelzimmer.

Die Euphorie vom Abenteuer Umziehen und die Spannung der neuen Stadt, welche keine geringere als die Weltmetropole Karlsruhe ist, sind soweit verflogen. Hier ist jetzt also hier.

Die Wohnung, die ich nach nur fünf Besichtigungen in Karlsruhe gefunden hab, ist ganz ok. Es ist sicherlich keine Villa. Für mich ist es ausreichend. Es ist ein eingerichtetes Zimmer, Stil Studentenwohnheim. Was ich hier habe ist im Großen und Ganzen: Tisch, Stuhl, Schrank, Küche und Bett. Immerhin das Badezimmer hat einen gewissen Luxus, namentlich eine Badewanne. Leider bade ich nicht gerne, das ist mir zu romantisch und entspannend. Ich glaube, so was können nur Frauen. Ich weiß gar nicht, wie man da ewig drin liegen kann und einfach nur… drin liegen. Mein Geist rast immer umher, wenn ich untätig liege oder sitze. Für mich ist die Badewanne also eher Hindernis. Ich muss vorsichtig oder im Sitzen duschen, weil ich keinen Vorhang habe. Das ist ein wenig altbacken. Aber wer beschwert sich schon deshalb? Dafür tu ich was für die Umwelt: Ich spare bestimmt hunderte Liter Wasser, weil Duschen so keinen Spaß macht. Da ist man in Minutenschnelle fertig.

Die Wohnung ist objektiv betrachtet also Unterschicht, das Haus sieht auch nicht einladend aus. Wer Alternativen hat, zieht hier schnell wieder aus. Oder eher gar nicht erst ein. Ich bin dennoch richtig froh, dass ich die Bude gefunden hab. Nicht nur, weil ich so endlich raus aus dem Haus meiner Eltern war. Sie hat auch den Vorteil, dass ich keine Möbel kaufen und hochtragen musste.

Das wäre problematisch geworden. Ich kenn hier nämlich keine Leute, die mir helfen könnten. Also ich kenn hier überhaupt keine Leute, so war das gemeint. Wobei: Ich hatte die auch bestellen können, aber wer weiß, ob die von der Spedition in die Wohnung oder nur bis zur Haustür liefern. Naja, es ist jetzt sowieso zu spät.

Es ist nicht schlimm, auch wenn ich gerade ein wenig meckere. Wenn ich unsere alte Wohnung durch zwei teile, komm ich auch nicht auf mehr Platz für mich. Alex hat ohnehin viel für sich beansprucht. Alles war voll mit ihren dämlichen Kerzenständern, Figuren und Bildern. Die 40 m³ reichen mir und meinen überschaubaren Besitztümern dicke.

Das Haus ist für die Anzahl der Bewohner ruhig. Die Leute sind gechillt. Jeder kümmert sich ausschließlich um sich selbst, aber fast alle grüßen nett. Einen Hausdrachen habe ich noch nicht brüllen hören. Hier wohnen Studenten, Mittelklässler und Rentner. Eine ganz normale Mischung. Da falle ich nicht weiter auf, denke ich. Die Gegend ist auch ruhig, abgesehen von ein paar Assi-Bewohner in den umliegenden Häusern. Allerdings nichts im Vergleich mit Bremen.

Der Umzug lief somit erstaunlich rund. Meine Eltern waren verständlicherweise überrascht, dass ich so spontan so weit weg wollte. Die Trennung von Alex habe ich als Begründung genommen und Karlsruhe als aufstrebende Technologie-Stadt verkauft. Nach etlichen Gegenworten und Gründen, mich umzuentscheiden, haben sie irgendwann aufgegeben. Mein Vater meinte, dass es mein Leben ist, und ich das selbst entscheiden kann. Ging also recht easy. Nachdem die Kündigungsfrist minus Resturlaub (mit mir wollte die alte Bergziege Alex ja nie verreisen, da hatte ich also ein Polster) abgesessen war: Ab dafür. Die Fahrt zwar auch okay. Bus statt Bahn!

Seit so zwei Wochen bin ich nun in Karlsruhe. Die Wohnung war also direkt abgehakt. Immerhin ein Punkt für mich, der Job auch, ein zweiter Punkt. Aber gleich wieder zurückrudern. Das klingt etwas zu erfolgreich.

Bei der Wohnung hatte ich Glück, beruflich nicht so. Ich hab wirklich angestrengt nach Jobs gesucht. Ich bin fit in Finanz-Software, Office-Anwendungen und dem ganzen Gedöns. Offene Stellen habe ich viele gefunden, ich habe mich schließlich schon in Bremen schlau gemacht.

Dann habe ich meine Liste nach und nach abgearbeitet. Es hatte was von Speeddating. So wie man beim zwölften Gespräch sogar die Frau knorke findet, die auf Musicalreisen fährt und Metzgereifachverkäuferin ist, habe ich meine Ansprüche gesenkt. Der Job ist kein Traum, aber für den Anfang doch gut genug. Weil er Kohle bringt. Die Leute in Karlsruhe sind sich wohl zu fein, sich morgens in ein stickiges Kiosk zu setzen. Gut für mich, ich habe zufällig ein Schild am Kiosk am Ende der Straße entdeckt. Mich am gleichen Tag vorgestellt, so sympathisch und zuverlässig wie möglich getan. Und: Erfolg! Jetzt bin ich Kioskwärter oder wie man das nennt.

Ich war richtig aus dem Häuschen, als ich den Job in der Tasche hatte. Erstmal ein Bierchen gezischt und es mir gut gehen lassen. Im Laufe des Abends wurden natürlich, türlich mehr daraus, sicher Digga.

Im Kiosk sitzen und die Seele ein bisschen baumeln lassen, kommt mir gelegen. Die letzten Wochen haben mich echt verrückt gemacht. Da ich in Bremen nebenher als Grafiker gearbeitet habe, hat der Arbeitsplatz einen weiteren Vorzug. Hier ist oft wenig zu tun. Es wird wohl verboten sein, auf der Arbeit nebenberuflich zu arbeiten. Meinen Computer schmuggel ich trotzdem mit rein. Das Gerät ist schnell versteckt, falls der Chef oder Kollegen überraschend kommen sollten. Ich habe hier Zeit und Ruhe, Ideen zu schmieden und dann auch gleich umzusetzen. Finanziell hoffentlich bald ein lohnenswertes Zubrot. Die lumpigen Ersparnisse sind nach den Übernachtungen und der Eingewöhnungsphase nämlich fast weg. Die Bars, also deren Biere, sind in Karlsruhe teuer.

Glück ist irgendwie schwerer zu schmieden, als ich dachte. Auf Dauer wird so ein Wächter- und Verkäufer-Dasein nichts sein. Da ich in meiner Branche (Rechnungen und Mahnungen) gut war, wäre es wohl besser, wenn ich mir wieder so was suche. Wobei ich bei dem Gedanken an eine Zukunft im Großraum-Office Bauchschmerzen bekomme. Für den Übergang möchte ich mich wegen dem Kiosk wirklich nicht beschweren, da fürchte ich mich zu sehr vor dem Karma. Das sieht bekanntlich alles.

Ich habe kaum bis keine Verantwortung, komme aus der Bude raus und verdiene genug Kohle, um zu leben. Mindestlohn, aber Kleinvieh eben. Sitzen würde ich zuhause auch, also kann ich mich hier auch bezahlen lassen. Was mich an dem Job richtig stört: Das Münzgeld und ständig fremde Leute berühren. Ich hab einen neuen Respekt vor Kassiererinnen. Ich würde mir am liebsten alle 10 Minuten die Hände desinfizieren. Ständig andere Menschen anfassen ist einfach unangenehm. Ich stell mir danach immer vor, was die vor mir so in den Pfoten hatten. Da komm ich auf die kühnsten Gedanken. Es schüttelt mich gerade wieder.

Eigentlich hoffe ich, aus dem Kiosk Illustrationen für irgendwelche Start-Ups oder Übermütige machen zu können. Im Zuge derer wie David Chao meine Kunst gegen Anteile zu tauschen und reich zu werden. Hoffen wir mal, dass es wenigstens bald anfängt zu regnen, nicht nur zu tröpfeln… ich will nämlich, dass es bald Aufträge hagelt. Dann hätte ich zwar weniger Zeit, um hier zu schreiben, aber das wäre das geringste Problem. Dieses Schreiberei ist ja beinahe Beschäftigungstherapie.

Das Kiosk ist neben einer Grundschule. Das ist dann auch ein Teil unserer Kundschaft. Eigentlich nur meiner Kundschaft, weil ich immer die Frühschicht habe. Das heißt, dass ich von 7 bis 8 Uhr und mittags ein bisschen was zu tun habe, was mir auch Spaß macht. Die Kinder sind niedlich, wenn sie sich Mühe geben, wie Erwachsene zu bestellen. Ich mag die Gauner. Hier gibt es alles, was ungesund ist: Gummitiere, Schokoriegel, Schokomilch, Kekse, Alkohol, Zigaretten, Lotto. Die letzten paar Sachen kriegen die Kleinen natürlich nicht. So durchgepeitscht bin ich dann doch nicht.

Die Kleinen kommen in größeren Gruppen und stehen brav Schlange. Das ist richtig süß. Kinder sind der richtige Kontakt, wenn man den Glauben an die Menschheit verliert. Manchmal schleichen sich einzelne Schüler während der Unterrichtszeit raus und kaufen Süßkram, meistens aber nicht. Abgesehen von den Pausen ist wenig los. Ich frage mich, ob die Kinder Angst vor mir haben.

Morgens zeichne ich nebenher, versuche es wenigstens oder surfe im Internet. Theoretisch will ich nach potenziellen Aufträgen suchen, lande aber oft auf der Seite von Alex. Alex hat ihren Status auf vergeben. Ob ich damit gemeint bin? Für ein Tagebuch bin ich zu alt, das passt besser zu den Sorgen und Ängsten der Grundschüler. Aber besser hier zu schreiben, als dauernd F5 zu klicken, um zu sehen, ob sie was geschrieben hat.

In der Zeit von 10 bis 12 Uhr herrscht meist Totenstille. In diesen Stunden habe ich an meinen ersten Tagen sowohl Kaloriengehalt als auch Zutaten von allen möglichen Schokoriegeln auswendig gelernt. Ob das Wissen bei nem Date gut ankommt? Ich bin leider mein bester Kunde. Ich habe mir eigentlich vorgenommen abzunehmen. Gar nicht so einfach, wenn man bei der Langeweile so viel Leckereien vor deiner Nase stehen hat.