Zurück in der Gegenwart.
Als ich aufgewacht bin, hat mein Schädel tierisch gebrummt. Meine Augen haben nicht richtig funktioniert. Alles verschwommen zu sehen, war ein beklemmendes Gefühl. Wie man es so macht, wenn man morgens aufsteht und nicht alle Sinne beisammen sind: Ich rieb meine Augen. Versuchte es. Denn ein stechender Schmerz setzte meinen Körper in Alarmbereitschaft. Sei vorsichtig!
Durch den Schock war ich plötzlich hellwach, die Sicht war allerdings immer noch eingeschränkt. Ich befühlte meine Lippen: Geschwollen. Mit meiner Zunge tastete ich die Zähne ab. Sie wurde zum Scheibenwischer. Zum Glück klaffte nirgendwo ein Loch.
Nachdem ich vorsichtig sichergestellt habe, dass auch ansonsten noch alles da war, wo es hingehört, wurde mein Blick schärfer. Nicht klar, kein Durchblick, wenigstens der Milchglaseffekt wurde schwächer. So konnte ich mich langsam mit meiner Umwelt beschäftigen.
Ein Schock: Diese Wände hatte ich noch nie gesehen.
Die Einrichtung und Gerätschaften ließen nur einen Schluss zu. Ich liege gerade im Krankenhaus. Zu den berühmten W-Fragen (Was, Wie, Warum, Wo) gesellte sich eine S-W. Seit wann liege ich hier?
Ich versuchte zu rekonstruieren, wie ich an den Ort, über den ich nichts wusste, gelangt bin. Fehlanzeige. Ich erinnerte mich an keinen Krankenwagen, weder Not- noch Unfall. Ich musste so viel herausfinden, wie möglich. Ich wollte mich im Zimmer umschauen, jemanden ausquetschen wie eine Zahncremetube. Ich richtete mich auf, wollte gerade aufstehen, als ich ein Klopfen hörte.
Auf keine Antwort wartend wurde die Tür geöffnet. Herein kam eine junge Frau. Blond, hübsches, rundliches Gesicht. Moderne Frisur, die morgens sicher eine halbe Ewigkeit braucht. Ihr armer Lebensabschnittspartner. Falls sie ein Engel ist, bin ich enttäuscht vom Himmel. Sie schaute mich erstaunt an.
„Guten Morgen, Herr Benson. Schön, dass Sie wach sind.“
Nach einem kurzen Gespräch, kamen langsam Erinnerungen zurück. Ich sah Geschehenes vor mir. Die Story klang wild. Ich war misstrauisch: Ob sich mein Gehirn nur erinnern wollte, einfach krampfhaft Gedächtnislücken füllte, indem es sich etwas aus den Erzählungen von Schwester Petra zusammenreimte?
Ich hatte keine andere Wahl, ich musste zuhören und nicken. Die Krankenschwester war glücklicherweise sehr gesprächig. Sie war heute morgen bei Schichtbeginn so neugierig, dass sie fast alles über mich weiß, meinte sie. Ich wurde gestern Nacht in der Notaufnahme eingeliefert. Ich habe schlimm ausgesehen, haben die Kollegen gemeint.
Schwester Petra: „Die waren froh, dass sie überhaupt überlebt haben. Heutzutage ist das ja so schlimm mit den Schlägern. Sie wissen ja gar nicht, was wir alles zu sehen bekommen.“
Sie erzählte viel und dieses hastig. Ich hatte Schwierigkeiten, ihren Ausführungen zu folgen. Ein Pärchen hat mich bewusstlos auf der Straße gefunden. Die genaue Uhrzeit konnte sie mir nicht sagen. Ich winkte ab, als sie mir anbot, nachzuschauen. Nicht wichtig. Wohl aber, dass die Polizei schon zweimal da war, um zu sehen, ob ich ansprechbar bin. Sie ratterte dann meine Verletzungen runter.
Ich muss wohl richtig vermöbelt worden sein. Neben meinem Gesicht sollte auch mein Körper mit einigen Überraschungen aufwarten wie ein Weihnachtsbaum. Rettungskräfte müssen ziemliche Tratschtanten sein. Sie hatte noch mehr Informationen. Als ich gefunden wurde, lag neben mir ein Schlagring. Sie warnte mich vor: Die passenden Blessuren würde ich verteilt über meinem Körper finden.
Ich war geschockt und konnte kaum Worte finden. Aber das Schlimmste kam erst. Sie: „Haben Sie schon in den Spiegel geschaut?“ Ich schüttelte den Kopf. Sie legte mir die eine Hand auf die Schulter, stütze mit der anderen meinen Oberarm und zog mich wohl. Nach den ersten paar Schritten war ich wieder gut auf den Beinen.
„Dann schauen wir uns die Sache mal an. Nicht erschrecken.“ Obwohl ich nur mit einem Krankenhaus-Kittel angezogen bin, sank mir das Herz in die Hose. Der erste Blick in den Spiegel war trotz der ertasteten Vorwarnungen ein Schock. Ich sah übel aus. Hatte eine Tracht Prügel kassiert, die sich gewaschen hat. Schwester Petra schälte den Verband, der sich um meinen Schädel spannte, ab.
Mir bleib für ein paar Sekunden die Luft weg. Die Täter haben mir ein X auf die Stirn geritzt.
Ich wollte mich wieder hinlegen. Genug – zu viel – herausgefunden. Ich war froh, dass Schwester Petra nun weiter musste. Nachdem sie mir meinen Mumien-Kopfschmuck wieder angelegt, die Tabletten erklärt, Blutdruck genommen und noch ein paar Fragen gestellt hat, verabschiedete sie sich wieder. Ach ja, meinte sie, ein Arzt würde bald reinschauen.
So lag ich da. Konnte trotz aller Stille keine geordneten Gedanken finden. Situationen und Stichworte blinkten vor meinen Augen auf wie beim Abbiegen. Ich sah mich eine Line Speed ziehen. Sah mich im Spiegel mit der Narbe. Polizei, Krankenhausrechnung, Überfall, Verbrecher.
Ein weiteres Klopfen riss mich aus meinem Kopfkino. Diesmal war es sanftes, die Verweildauer vor der Tür war länger. Nach meinem zaghaften, fast fragenden, Ja wurde die Tür geöffnet.
Anna tapste vorsichtig in mein Sichtfeld. Ihre Augen waren rot, das Gesicht aufgedunsen, sie trug die Trophäen einer durchweinten Nacht.
Sie fiel mir um den Hals. Dann zuckte sie zurück: „Tu ich dir weh?“ Ich zog sie an mich, flüsterte in ihr Ohr, dass ich keine Schmerzen hätte. Sie schluchzte, ich spürte, wie der Kittel an meiner Brust feucht wurde.
Nachdem ich ihr mehrmals versicherte, dass ich mich gut fühle, kam sie zur Ruhe. Ihre Tränen trockneten während ich ihr erzählte, was ich wusste. Abzüglich pikanter Details. Sie erzählte von dem Anruf, durch den sie von meinem Überfall erfahren hat. Meine Mutter hat sie wohl angerufen. Es schien alles gesagt, was sofort raus musste. Wir hielten eine Schweigeminute.
Anna: „Ich hab mir solche Sorgen gemacht.“ Ihre Augen wurden wieder zur Quelle eines salzigen Flusses. Ein paar Minuten Schmusen später, ging es wieder. Sie meinte, dass sie mir etwas mitgebracht hat, sie verließ das Zimmer, kam kurze Zeit später mit einer Tasche zurück. Gefüllt war sie mit dem, was man bei einem Krankenhausaufenthalt so braucht. Ich war froh, dass ich ihr in einer Nacht mit zu viel Bier einen Schlüssel für meine Wohnung überreicht habe.
Und dann war ich wieder allein. Anna wurde vom Alltag gerufen. Sie musste zu einer Vorlesung. Sie fragte mich, ob sie sich frei nehmen sollte. Bloß nicht. Ein ganzer Tag mit einer verheulten Frau neben mir wäre noch schlimmer als ein Narben-X auf der Stirn.
Und so liege ich jetzt hier. Schreibe und lese, was geschehen ist.
Wie es weiter geht, kann ich nicht sagen.