15. September, 19 Uhr 43

Nachdem ich vorsichtshalber noch ein paar Extrarunden durch den anliegenden Wald gedreht habe, bin ich wieder zuhause. Anna müsste sich mittlerweile den ersten Cocktail hinter die Binde gekippt haben. Wahrscheinlich steigert sie sich gerade rein, wie unverschämt ich denn bin, wenn ich irgendwo etwas trinke. Und dann hat er die Bedienung nicht mal angeguckt, als er ihr das nächste Bier aus den Händen gerissen hat. Sie hat mich, als ich gerade bei Ulli aufbrechen wollte, gefragt, ob ich nachkommen will. Ich habe sie nicht mal angelogen, als ich meinte, dass ich noch länger unterwegs bin. Dass ich danach noch Zeit geschunden habe wie der Torhüter der führenden Mannschaft beim Abstoß, muss ja niemand erfahren.

Ich wollte nichts riskieren. Mir war es wichtig, dass Anna ja aus dem Haus ist, wenn ich zurückkomme. Sicher ist sicher. Es hätte ja sein können, dass sie mich nur testen wollte. Dass sie an meiner Tür nach Lebenszeichen lauscht und mich beim ersten Geräusch an den Haaren in die Straßenbahn zieht. Bei dieser Vorstellung kam meine paranoide Ader wieder durch. Nachdem ich mich schon überwunden habe, zu Ulli zu gehen, wollte ich auf keinen Fall noch den Freundeskreis ertragen. Das wäre eindeutig zu viel soziales Verhalten für einen Tag. Der Umweg ins Grüne tat gut. Frische Luft schadet nie – außerbei einer Pollenallergie.

Der Mittag bei Ulli war… ulkig. Mir fällt kein passenderes Wort ein. Hätte ich vor dem Besuch eine Wohnung für Ulli einrichten müssen: Er würde wahrscheinlich am selben Tag wieder ausziehen.

Die Wohnung ist klein, aber oho. Je genauer ich mich umgeschaut habe, desto erstaunlicher wurde sie. Irgendwann habe ich mir im Geiste schon ein paar Witze erzählt: Dass Ulli ein bestechend guter Transvestit ist oder seine Mutter im Keller aufbewahrt wie Norman Bates von Psycho. Der Wohnung fehlt lediglich ein kleines, weisses Hündchen, ansonsten ist sie wie aus dem Hausmütterchen-Versandkatalog ausgeschnitten.

An einigen Wänden hängen Setzkästen, die mit hunderten Figuren vollgestopft sind. Dort tummeln sich Überraschungsei-Figuren und Schneekugeln, es reihen sich Miniaturautos an kleine Instrumente. Die Möbel sind verschnörkelt, in diesem dunklen Holz, dieser tiefbraunen Farbe, die heutzutage eher an Horrorfilme als an Wohnidylle erinnert.

Andere Wände sind mit Bilderrahmen tapeziert. Zuvorkommend wie er ist, hat er mir die Leute auf den Fotos vorgestellt. Viele Verwandte, viele alte Freunde. Dann hat mir seine kümmerliche Büchersammlung gezeigt: „Horch Anders, ich bin ja nicht so der Leser, ich schau lieber Fernseher. Aber die Bücher brauch ich. Die Einbrecher durchwühlen die bestimmt die ganze Zeit, wenn die einbrechen. Da bleiben meine Schätze unberührt.“ Alles ist in die Jahre gekommen, aber es wurde in all den vergangenen Jahreszeiten gepflegt.

Der Wohnstil wirkt so, als ob er wenig Geld zur Verfügung hat. Sich mit den Sachen, die er besitzt, aber arrangiert hat, wahrscheinlich sogar vollends zufrieden ist. Er ruhte jedenfalls in sich, als er mir Kaffee einschenkte. Er tischte Windbeutel auf. Sie waren noch nicht ganz aufgetaut. Ich mit leichtem Brainfreeze: „Das schmeckt ja cool, wie Eis mit Keksen!“ Er wäre sonst bestimmt aufgesprungen, um mir eine Stulle zu schmieren. Ich wollte ihm nicht noch mehr Arbeit machen.

Ulli wollte wissen, ob bei mir alles in Ordnung ist. Ob mich etwas belastet. Er habe da etwas im Gefühl. Aber nur so eine Vermutung, weil das Treffen aus heiterem Himmel kam. Ich fühlte mich nicht wie bei einem Therapeuten, eher wie bei einer besorgten Tante, die sich erkundigt, ob alles im Reinen ist. Wäre ich nicht so eine gehemmte Person, hätte ich wohl vor Rührung losgeheult. Ich hätte ihm mein Herz ausgeschüttet, weil ich mir sicher bin, dass ich ihm vertrauen kann.

Aber mein Dilemma ist nun mal, dass ich das, was mich beschäftigt, niemandem anvertrauen kann. Ich kann niemandem erzählen, dass ich Menschen töten kann. Dass ich Menschen getötet habe. Dass ich Menschen töten will. Weil ich mich in der Situation jedoch durchaus aufgehoben gefühlt habe, gab es zumindest eine abgespeckte Version der Wahrheit: Unstimmigkeiten mit Anna, Schuldgefühle wegen zuhause.

Ich habe den Kummer meines Gewissens und die Schuldgefühle meiner Seele ein wenig in die anderen Situationen eingeflochten.

Ulli hat die Missstände direkt analysiert, ganz ohne meinen Kaffeesatz zu lesen oder eine Glaskugel zu streicheln. Er meinte, dass zwei Herzen in meiner Brust schlagen, dass ich zur einen Seite gehe, nur um mich umzudrehen, um sicher zu sein, dass ich nicht zu weit gegangen bin. Er hat gemeint, dass ich offen für Anna sein möchte, mich aber immer noch den Leuten in Bremen verpflichtet fühlen würde.

Ob das so zutreffend war, ich weiß nicht. Aber es war schön, in einem positiven Licht gesehen zu werden. Ich habe eher die Befürchtung, dass die beiden Seiten, die mich hin und zurück ziehen, mein gewisses Talent und mein talentiertes Gewissen sind.

Er meinte, ich sollte die Sachen zuhause erstmal richtig klären, dort für Tatsachen sorgen, um mich Anna dann komplett öffnen zu können. Das klang eigentlich ganz plausibel. Ich merke ja selbst, dass ich bei Anna auch wegen Alex verkrampft bin. Dumm nur, dass ich mich ihr nicht ganz öffnen möchte und mich den Problemen in Bremen auch nicht stellen will.

Bei Anna hatte er noch einen lustigen Rat. Eine Beziehung besteht aus Kompromissen, predigte er. Er hatte früher, als er noch ein Draufgänger war, eine simple Vorgehensweise. Als Mann will man ja möglichst viele Freiheiten für sich herausschlagen. Wenn man also Sachen vermeiden oder bekommen will, muss man taktieren. Das geht so: Immer übertreiben, wenn man etwas fordert. Damit der Kompromiss, also ihr Eingeständnis, möglichst nützlich ausfällt. Wenn man keine Lust mehr auf diskutieren hat, gibt man ihr recht. ABER! Und hier kommt die Übertreibung, die lustig verpackt sein muss: Ich fordere jeden Abend sechsfachen Bierflaschenkonsum, eine Salatschüssel Chips, freien Zu- und Abgang für drei Blondinen, drei Brünette und einen Rotschopf. Dazu 10 Euro Taschengeld.

Wenn sie sich dann ausgekichert hat, kommt die echte Forderung. Beispielsweise mit den Kumpels die Kante geben.

Wir haben beide herzlich gelacht, aber dass Anna den Humor von Ulli teilt… ich bezweifele.

Das Gespräch mit Ulli war vielleicht keine Offenbarung, aber ein paar Dinge auszusprechen, statt nur aufzuschreiben, war doch befreiend. Ulli hat noch von sich und seinen Enten erzählt, ich hab ihn nach seiner Familie gefragt, aber das scheint ein wunder Punkt zu sein. Die Überleitung zu den Enten hatten wir jedoch schnell wieder gefunden. Wir sind dann nochmal auf das Viertel zu sprechen gekommen. Er hofft, dass sich hier keine Terroristen einnisten.

Das Treffen war angenehm. Mein Verdacht hat sich bestätigt: Ulli ist ein feiner Kerl.