11. Oktober, 17 Uhr 01

Ich habe mir das Schauspiel rund um den Drogenverkauf am Kronenplatz gestern Abend angeschaut. Dort fühle ich mich sicherer als bei dem anderen Treffpunkt. Es verkehren auch normale Menschen. Auch die anderen Typen wirken weniger aggressiv. Wahrscheinlich, weil die Kronenplatz-Gang in der Öffentlichkeit arbeitet. Soll mir recht sein, so verschwimme ich in der Flut an Menschen, die hier ein- und auskehrt. Ich habe mich auf eine Parkbank unweit davon platziert. Kaffee to go und Semmel, dazu was für Notizen. Schein wahren. So stelle ich mir zumindest eine typische Verschnaufpause vor, studentisch eben.

Bei meiner Beobachtung ist mir wieder bewusst geworden, dass ein Leben wie früher zum jetzigen Zeitpunkt keine Option für mich ist. Aussicht auf eine fette Beute und der Reiz der Gefahr ist eine Mischung nach meinem Geschmack.

Als ich da so saß, kam ich mir vor wie in der Schwebe zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite die Gutbürgerlichen. Die da brav auf ihre Bahn warten. Von der Arbeit, der Vorlesung oder wichtigen Terminen kommen oder pflichtbewusst dahin fahren. Und auf der Gegengerade die Schattenseite der Stadt.

Schon erschreckend, was für Gestalten man entdeckt, wenn man sich die Mühe macht, genau hinzuschauen. Am schlimmsten sind die Junkies, die immer mal wieder durch das Sichtfeld schlurfen. Die sich in dem unverkennbaren Zombiegang fortbewegen und jede Mülltonne abklappern. Keine Pfandsammler, die sich ein paar Groschen dazuverdienen wollen, sondern Leute, die zugedröhnt nach Essensresten suchen. Wobei die vielleicht auf Pfand mitnehmen. Was weiß denn ich. Ich prägte mir die Szenerie ein, war fasziniert.

Bei einer Frau hat sich mein Magen zusammengezogen. Mich überkam dieses unheimliche Gefühl, wenn man ein Elend sieht, bei dem man denkt, dass man es unter bestimmten Umständen und mit den falschen Voraussetzungen ebenfalls erleiden könnte. Die Frau hat zwar kein Essen gesucht, war aber trotzdem eine gescheiterte Existenz. Sie noch keine 30, schätze ich. Aber ihr Körper sah verbraucht aus. Sie hat ein Bein nachgezogen. Die Schuhe waren zerfetzt und die Hose eher Lumpen als Kleidung. Was genau sie gekauft hat, wie sie das Geld dafür erarbeitet hat, möchte ich gar nicht wissen. Nach der Tagträumerei zuvor wurde mir immerhin wieder bewusst, warum ich hier war.

Ich konzentrierte mich wieder auf die Geschäfte.

Es ist schon erstaunlich, wie offen die ihrer Tätigkeit nachgehen. So viel zur Gewissenhaftigkeit der Polizei. Wenn man sich mit der Materie befasst, entdeckt man einen Mikrokosmos. Es muss ein abgesegneter Marktplatz sein. Wieso sonst hätten Pizzaboten den Mut ihre Käufe in ihrer Arbeitsmontur zu erledigen. Der Platz war belebt von Passanten, Bettlern und Gruppen von Freunden. Dazwischen waren zwei Teams von Dealern, die besucht wurden. Es waren zum Großteil junge Leute, die wohl vom Freundeskreis vorgeschickt wurden, um den Stoff für das Wochenende zu besorgen. Auch ältere Kunden waren dabei, die ihrem Aussehen nach gefährlich nahe am Abgrund stehen.

Ich sah, dass es ein eingespieltes System, weil der Ablauf immer gleich war. Einer stand einfach da wie eine Schaufensterpuppe. Ich vermutete also: Graue Jogginghose stand Schmiere, checkte die Lage. Schwarze Turnhose nahm das Geld entgegen. Rote Lederjacke händigte schließlich die Drogen aus. Nach einer bestimmten Zeit kam dann ein Vierter, der augenscheinlich Kassensturz machte. Er tauschte nämlich seine Einkaufstüte mit der von schwarzer Turnhose.

In der Zeit, in der ich dort war, wurde das Team einmal gewechselt. Es müssten also verschiedene Schichten geschoben werden. Weitere Vermutungen: Der Rubel rollt am Wochenende mehr als werktags, aber da werde ich mich nochmal vergewissern. Und der Typ, der das Geld übernimmt ist das beste Opfer.

Ich wurde es schließlich leid, so zu tun, als würde ich aus einem leeren Pappbecher Kaffee schlürfen. Ich gab auf, als die Drahtbank zum Folterwerkzeug wurde. Mein Booty war zu diesem Zeitpunkt ein Schachfeld geworden.