29. Oktober, 10 Uhr 52

Ich muss mich bei meinem Arzt bedanken. Diese Schlaftabletten sind zu krass. Da habe ich mich extra zeitig in das Land der ewigen Träume verabschiedet – natürlich nur stellvertretend. Ich rechnete eigentlich damit, dass ich ganz normal morgens aufwachen würde. Pustekuchen wie am Geburtstag. Ich habe eeewig geschlafen!

Und bin todmüde. Heute morgen, als ich um 9 Uhr aufgewacht bin, fühlte ich mich wie nach einer durchzechten Nacht. Kopfschmerzen, trockener Mund, Kratzen im Hals und rote Augen.

Da ich mittlerweile wieder zuhause bin, war Arbeiten auch nicht ergiebig. Maas schnaubte, als ich ankam: „Ein Glück war ich drei Stunden nach der reckulähren Öffnungszeit zufällig in der Gegend. Ich konnt retten, was zu retten war.“ So ein Held.

Man hat mir doch angesehen, dass es mir nicht gut ging. Ob man so einen kollegialen Dienst unkommentiert lassen kann? Nein. Er sah mir tief in die Augen, als wäre er der Rektor und ich ein Grundschüler. Maas meinte, dass es bereits das 7. mal in den letzten Tagen war, dass ich auffällig geworden bin. Maas ermahnend: „So geht das nicht weiter, Anders. Sie sind unzuverlässig geworden. Sie müssen mal ihr Leben wieder geregelt bekommen.“

Da bin ich ausgerastet: Will der Typ mich auf den Arm nehmen? Will der mir – MIR! – damit sagen, dass das meine letzte Chance ist?

Also habe ich ihm verklickert, dass ich unterbezahlt bin, dass ich mich nicht gut fühle, dass der Job Deppenarbeit ist, dass er doch dankbar sein soll und dass ich eine Gehaltserhöhung verdiene.

Lange Rede, kurzer Sinn. Er hat mich heimgeschickt und den Holger angerufen: „Gehens heim Anders, Sie verschrecken mir die Kunden.“

Nun habe ich einen freien Mittag. Vielleicht bin ich gefeuert, vielleicht nicht. Der Maas soll sich erstmal abregen. Meine Telefonnummer hat er, wenn er sich entschuldigen möchte. Deswegen werde ich mich nicht stressen. Ich gebe zu, dass ich zuhause ziemlich aufgebracht war. Aber meine Beruhigungspillen haben mich die Sache in Relation zum ganzen Leben und Tod entspannt sehen lassen.

So ein kleiner Job ist für einen wie mich doch Nebensache. Es dreht sich nur um das Geld. Und das kann ich auch anderweitig besorgen.

Ich frage mich, ob der Typ schon gefunden wurde. Vielleicht ist bei seiner Familie Trauerstimmung. Ob sie sich alle in den Armen liegen? Vielleicht treffen sich seine Kollegen auch gerade. Ich würde sie gerne sehen, wie sie bedröppelt dastehen, mit zusammengepressten Augen ihre Tränen zurückhalten. Ob sie der Reihe nach einen Schluck Bier auf die Straße kippen wie in Gangsterfilmen?

Damit dieser Tag nicht vollkommen nutzlos verstreicht, werde ich gleich mal meinen Arzt anrufen. Mal sehen, über was wir sonst noch plaudern.