28. Oktober, 11 Uhr 02

Arbeiten war ich heute überpünktlich, schließlich bin ich motiviert aufgewacht. Der Brief hat mir neue Kraft gegeben. Früh morgens aus dem Haus zu gehen hat den Vorteil, dass niemand auf den Straßen ist. Die Welt ist von halb 6 bis 7 in so einem Zwischending gefangen. Die Nachtschwärmer sind zuhause angekommen. Der letzte Döner wurde gegessen. Die arbeitende Bevölkerung wacht so langsam auf, aber bleibt noch in den eigenen vier Wänden.

Wenn ich mal gute Laune habe, kommt ein Stimmungskiller. Diesmal in Form von dem Typen, der im Lotto gewonnen, dem alles so schnell zerronnen ist. Das war echt ein geiler Tag, als ich den Trottel abgezogen habe. Das andauernde Verlieren scheint an seinen Nerven zu zerren. Er wollte mir einfach nicht glauben, dass der Schein eine Niete war. Diesmal war er das sogar. Er hat darauf bestanden, dass ich den Schein drei mal durchlasse.

Ist doch nicht mein Fehler, dass der zu blöd war, die richtigen Kreuze zu setzen. Es sind wirklich alle gegen mich.

Ich zitterte vor Wut. Bin wütend auf mich, weil ich dachte, dass er mich ertappt hat. Als ob ich mich wegen so einem fürchten sollte. Ich beruhigte mich mit einem Schlückchen, wie es garantiert Ärzten bei Operationen machen. Danach dachte ich, dass es das mit der Aufregung für den Rest des Tages gewesen sei. Ich gab mich meiner üblichen Beschäftigung hin: Magazine durchblättern. Wobei blättern zu viel gesagt wäre. Mit chirurgischer Präzision muss ich eine Seite auf die nächste legen, damit die Zeitschriften auch danach aussehen wie neu. Sonst rastet Maas aus, falls einer der Kollegen petzt. Ich bin immer vorsichtig: Vorher schön die Finger abwischen, damit weder Abdrücke noch Fettflecken zu sehen sind.

Ich informierte mich gerade über die selbstgebastelte Weihnachtsdekoration. Typ mit hoher Stimme in rauem Ton: „Hey, hier. Zigaretten.“ Ich dachte, dass es jetzt wieder unangenehm wird. Junger Kerl, hässlich, typisches Outfit. Ich frage ihn kurzsilbig, welche Sorte. Er antwortete noch knapper, warf mir einen 20er-Schein hin. Ich war in meiner Ehre gekränkte. Ich wollte es ihm zeigen.

Ich zählte das Rückgeld demonstrativ auf den Tresen. Bevor er es an sich nehmen konnte, lenkte ich ihn mit den Feuerzeugen ab. Während ich nach einem der Scheine griff, schnappte er nach meiner Hand. Er quiekte fast: „Ey, was soll des?“

Respekt, der Junge war wachsam. Er war zu aufgeweckt für einen klassischen Taschenspielertrick. Also meinte ich, dass ich ihm zwei kleine Scheine geben müsste. Ich in gespieltem, übertriebenem Akzent: „Sonst Scheine leer, verstehst du?“

Er krallte sich sein Geld, schob ein paar Schimpfwörter nach. Dann drehte er sich hastig um, riss mit seinem Rucksack fast die Behälter mit den Tippscheinen um.

Ich staunte nicht schlecht: Der Typ hatte meinen Rucksack auf.

Klar, das war ein typischer Sportrucksack vom Modell gibts-auch-im-Supermarkt. Aber dass dort AB mit schwarzen Stift neben dem Logo steht, macht ihn zum Einzelstück – meinem Einzelstück. Schließlich war das AB an meinem Rucksack das Unterscheidungsmerkmal zu seinem Zwillingsbruder, den mein Kollege BE besaß.

Das war eine Kriegserklärung.

Nach ein paar Minuten kam mir der Typ immer bekannter vor. Mein Gedächtnis flötete mir zu, dass ich ihn schon mal am Kronenplatz gesehen habe.

Der Gauner ist im Speicher. Zum Glück ist bald Feierabend.