Ich bin wieder zurück in meiner Wohnung, genau genommen schon das zweite mal. Der Reihe nach…
Ich bin also hoch zu Anna, ich war unglaublich nervös. Zwei Bier sind nicht so ein gutes Beruhigungsmittel, wie man vermuten würde. Die Wirkung verpufft, wenn man ständig trinkt und zudem von Adrenalin aufgeputscht ist. Ich habe an ihrer Tür geklopft. Nach schätzungsweise einer Sekunde wurde diese geöffnet.
Vor mir stand Anna, schön wie immer, aber mit verheulten Augen. Mir ist das Herz kurz runter in den Magen gerutscht. Diese dämlichen Polizisten haben meine Süße zum Weinen gebracht.
Mein Überraschungsbesuch war natürlich vollkommen unerwartet. Dementsprechend groß waren auch ihre aufgequollenen Augen. Nun musste ich mich erklären. Ich habe ihr also meine Geschichte aufgetischt. Dass ich die Polizei gesehen hab, wie sie aus ihrer Wohnung kam. Da wir per du sind, habe ich nur fragen wollen, ob alles in Ordnung ist, ob sie Hilfe braucht. Sie mit brüchiger, leiser Stimme: „Ja, eigentlich schon, aber…“
Sie bat mich in ihre Wohnung. So süß: Im Gang ist alles voll mit Fotos von ihr und ihrer Familie – Mutter, Vater, Tiere. Sie lotste mich ins Wohnzimmer, bot mir einen Platz auf ihrer Couch an. Ich war umzingelt von einer Herde Plüschtiere.
Nun ihre Geschichte: Es hat geklingelt. Männer in Polizeiuniform standen im Flur. Anna war erst misstrauisch. Man hört in letzter Zeit ja immer wieder von Verbrechern, die die miesesten Tricks benutzen. Da beide anstandslos ihren Dienstausweis vorgezeigt haben, hat Anna sie reingelassen. Sie meinte zwar, dass sie nicht wirklich weiß, wie so ein Dienstausweis überhaupt aussieht, aber die beiden wirkten souverän. Die Polizei hat dann losgelegt, es ginge um einen Unfalltod mit Fahrerflucht. Ein älterer Mann wurde gestern Abend zwischen 20 und 22 Uhr überfahren, und ist seinen Wunden erlegen. Der Mann wurde nachts Postfiliale von Zeugen aufgefunden. Er muss sich in einem letzten Kraftakt dorthin geschleppt haben. Er war durchnässt, außer ein paar Habseligkeiten und ein wenig Kleingeld wurde nichts Auffälliges gefunden. Nicht Auffälliges außer einem Zettel mit einer Nummer. Der eine Polizist meinte: „Diese Nummer ist Grund für unseren Besuch.“
Es war Annas Handynummer auf einem Paketzettel. Anna war bis zu diesem Punkt verwundert, sagte sie. Dann bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie fragte nach dem Namen von dem Mann. Sie kannte ihn nicht. Dann wurde ihr sein Foto (das von der Leiche, echt hart) gezeigt. Auch nicht erkannt.
Die Polizisten so: Es liegt der Verdacht nahe, Anna hätte den Typen überfahren, ihm schnell ihre Nummer in die Hand gedrückt und Fahrerflucht begangen. Sie sollte jetzt ehrlich sein, es zugeben und dann würde alles gut werden.
Annas Glück: Nicht nur, dass sie kein Auto hat, sie hatte zu dieser Zeit auch Besuch von zwei Freundinnen. Nun musste sie Namen und Adresse der Damen diktieren, dazu noch irgendein seltsames Formular ausfüllen. Sie vermutete, um die Schriften zu vergleichen. Danach wurde ihr noch eine Karte in die Hand gedrückt, sie sollte sich melden, wenn ihr etwas einfällt.
Anna war aufgelöst, verständlich. Sie hat beim Erzählen gezittert und mit ihren Tränen gekämpft. Sie tat mir richtig leid. Sie meinte, dass sie Angst hat. Du arme Süße. Nicht nur wegen der Polizei, besonders weil so ein alter Landstreicher ihre Nummer hat.
Jetzt kam mein Auftritt. Ich habe ihr auf den Schock erstmal ein Bier angedreht. Ich habe es wohl mehr gebraucht als sie. Wie haben es in Rekordzeit und gebrochener Rekordzeit geleert. Ich habe ihr angeboten, dass ich noch Nachschub aus meiner Wohnung holen könnte. Ich: „Hilft vielleicht, ein wenig runterzukommen.“ Ihre Antwort war einsilbig: „Ja.“
So bin ich, wie gesagt, nochmal zu mir. Ich stand bestimmt 30 Sekunden Bad und habe durchgeatmet. Diese gemischten Gefühle, also Schock über den Umstand und Freude wegen Anna, verwirrten mich. Wer hat diese Gemütszustände nur erfunden…
Lange warten lassen wollte ich sie aber nicht: Also bin ich ein bisschen nach gleich mit Bier hoch.
Dann versuchte ich, ihr Mut zuzureden – mir selbst ebenfalls. Ich meinte zu ihr, dass sie sich keine Sorgen machen sollte. Der Polizeibesuch wird das schlimmste an der ganzen Geschichte gewesen sein. Vielleicht war es ja gar keine Telefonnummer, sondern irgendeine Zahlenfolge, eine Kontonummer oder so was. Wer weiß, was Obdachlose so kritzeln, wenn der Abend zur Nacht wird. Oder falls es eine Telefonnummer war, hat der wahre Täter einfach etwas hingekritzelt, damit der Willi keine Szene macht. Vielleicht hat er ihm Geld versprochen.
Reden ist ja die beste Therapie. Wir haben dann noch darüber durchgekaut, was sie an dem Abend gemacht hat. Dabei kamen wir zum Schluss, dass ihr Alibi, falls sie eines benötigt, wasserdicht ist. Immerhin etwas. Sie hat mich gefragt, ob ich sie denn nicht gehört hätte, weil sie laut gewesen wären. Ich hab dann notgelogen: „Klar, hab ich das. Ihr verrückten Hühner, ihr. Mach dir keine Sorgen, ich kann das bezeugen.“
Wir haben noch ein wenig getrunken, aber nachdem der größte Schock überwunden und verarbeitet war, ist ihr eingefallen, dass sie noch etwas zu tun hatte: Sie wollte ihre Freundinnen anrufen. Das hätte sie ja ganz vergessen. Nicht dass die Polizei heute noch aufkreuzt. Vielleicht ist ihr auch bewusst geworden, dass sie mit einem Fast-Fremden allein in ihrer Wohnung war.
Es gab dennoch einen glänzenden Schlusspunkt, ein Feuerwerk der Gefühle für mich: Bei der Verabschiedung haben wir uns umarmt. Als ich bereits die ersten Stufen nach unten genommen hatte, hat sie sich nochmal bei mir bedankt.
Das war passiert.
Je mehr ich mir über die Vorkommnisse vor dem Abend mit Anna Gedanken mache, desto bedrückter werde ich. Der Zettel, den ich kurz zuvor geschrieben und in der Hand gehalten habe, wurde bei ihm gefunden. Aber: Ich bin mir sicher, dass ich ihn sicher verstaut hatte. Ich wollte ihn ja vor den Wassermassen schützen. Ich gehe ganz stark davon aus, dass ich gestern Abend angefahren wurde und nachts die gleichen Verletzungen, an denen der Mann verstorben ist, hatte. Ich war wahrscheinlich der letzte Mensch, der mit Willi Kontakt hatte.
Alles erinnert mich sehr an die Frau über mir und ihr Ableben.