23. September, 15 Uhr 16

Jetzt sitze ich erst seit 5 Minuten im Bus, wir haben Karlsruhe nicht mal verlassen. Ich bin noch innerhalb der Stadtgrenze und trotzdem fühle ich mich frei. Je weiter ich von zu Hause weg bin, desto tiefer in die ferne Vergangenheit schiebt sich der Vorfall von gestern. Falls mich jemand gesehen hat, wird er mich in den nächsten Tagen vergessen haben. Zu durchschnittlich ist mein Erscheinungsbild, zu düster war der Abend. Ich kann wie ein Gallier leben. Die einzige Sorge, die ich haben muss: Dass mir der Himmel auf den Kopf fällt. Ich könnte mir ein Gläschen Sekt zur Feier gönnen, aber ich bin auch ohne Zaubertrank unschlagbar. Die Polizei wird ebenfalls im Dunkeln tappen, ich habe mit dem Typen nichts am Hut. Die heiße Spur fährt nun nach Bremen. Nach mir können sie lange suchen.

Auch wenn ich im Moment euphorisch bin, hatte ich am Morgen Angst. Dieser kurzzeitige Tod nimmt mich immer mit. Ich war groggy. Auch wenn man weiß, dass man überlebt, ist so ein Selbstmordversuch anstrengend. Mit Kopfschmerzen versuchte ich an alles Wichtige zu denken. So wusch ich als erstes die Rotweinflasche sorgfältig ab, danach habe ich meinen Rucksack geduscht. Mit flauem Magen habe ich meine restlichen Dinge gepackt. Die Drogen habe ich in eine Gefrierdose verfrachtet. Sicher ist sicher, man weiß ja nie, wo Spürhunde Gassi gehen. Die geschrotteten Elektrogeräte liegen in der Mülltonne. Dann musste ich noch die wertlosen Sachen von ihm loswerden. Seine Dokumente habe ich ihm Spülbecken verbrannt -naja, der Ausweis ließ sich nur ankokeln und unkenntlich machen. Die Asche, Überreste und den Geldbeutel habe ich einzeln mit mulmigem Gefühl in verschiedenen Mülleimern auf dem Weg zum Bahnhof entsorgt.

Als ich diese Beweisstücke los war, war ich erstmal erleichtert. Aber der Bammel, während ich in durch den Bahnhof gegangen bin, war mir bestimmt anzusehen. Es ist kein Geheimnis, dass Polizisten dort oft auf Verbrecher treffen, die zur Fahndung ausgeschrieben sind. Leider musste ich auf dem Weg zum Busbahnhof einmal komplett durch das T-förmige Gebäude. Von Nord nach Süd.

Als ich rein gekommen bin, habe ich bei jedem Beamten-Paar befürchtet, dass sie mich gleich einsammeln wie Miraculix die Kräuter. Nichts wie weg: Ich habe geschwitzt und bin geeilt. Im Nachhinein war die Gefahr bestimmt nicht so groß. Wenn man einen Verbrecher am Bahnhof sucht, wendet man sich wohl eher an die zwielichtigen Typen, die dort rumhängen. Vorurteile sind schon etwas schönes. Ich war einfach ein unbescholtener Reisender.

Eben habe ich Anna noch geschrieben. Ich meinte, dass ich sie jetzt schon vermisse. Das wird mir bestimmt auch ein paar Pluspunkte bringen. Ich habe sie zudem gebeten zu schauen, dass mein Briefkasten nicht überläuft. Was jedoch sehr unwahrscheinlich ist. Kein Schwein schreibt mich an… Keine Sau frankiert Briefe für mich…

Meine Taschen sind voll mit Geld. Mit Straßengeld, das ich geklaut habe und niemand wird mich finden. Wunderbar, so muss es sein. Sollte mich doch noch jemand kontrollieren, sind das eben Ersparnisse, die ich im Heimaturlaub auf den Kopf klopfen werde. Verbrechen lohnt sich doch. Jetzt kann ich in Bremen ein bisschen auf dicke Hose machen. Mitgenommen habe ich 600 Euro in kleinen und mittleren Scheinen, der gleiche Betrag liegt unter der heimischen Spüle. Jackpot! Drin das Ding wie eine Hauskatze! Zuhause geblieben ist mein eigentliches Urlaubsbudget, das ich gar nicht antasten muss. Zum Glück hatte dieser Trottel so viel Kohle dabei: Ferien auf Idiotenkosten.

Es greift ein Puzzleteil ins nächste, meine Mutter hat beim Telefonat heute morgen auf eine Nacht im Elternhaus bestanden. Das kam mir ganz gelegen, also ließ ich mich nach gespieltem Widerstand überreden. Dadurch konnte ich heute später losfahren, sprich länger schlafen, sprich länger regenerieren, sprich es läuft. Das Hotel war auch kulant, umbuchen war kein Problem.

Es war gut, dass ich gestern Abend so unter Zeitdruck war, so blieb keine Zeit zum Umentscheiden. Dadurch dass es mehr oder weniger Notwehr war und der Typ von der ganz üblen Sorte, habe ich auch keine Gewissensbisse. Ich fühle mich sogar richtig gut. Ich wurde quasi dafür belohnt, also bezahlt, dass ich für Recht und Ordnung gesorgt habe.

23. September, 18 Uhr 47

Diese Fahrt ist härter als gedacht. Schlafen funktioniert nicht. Zu unbequem, zu fremd. Auf diese Fahrgäste hier als Gesprächspartner habe ich keine Lust. Der Busfahrer ist so gesehen meine einzige Unterhaltung. Bei jedem Stopp muss er seine Regeln inklusive Willkommensgruß, Anschnallen und Internetverbindung runterbeten. Es ist auch der einzige Moment, in dem ich meine Musik pausiere. Ich kann seine Rede zwar fast schon auswendig, aber ich ergötze mich jedes mal aufs Neue an seinem Leid.

Immerhin habe ich genug Zeit, darüber nachzudenken, wie ich mich bei den ganzen Wiedersehen verkaufe. Schließlich will ich keine Schwäche zeigen, sondern erfolgreich, selbstsicher und glücklich wirken. Ich habe bei gewissen Dinge eine Maulsperre, lügen muss ich dort so oder so. Es stellt sich lediglich die Frage, wie weit ich dabei gehen will. Ich beneide meine Mitreisenden hier im Bus, und wäre gern einer von denen. So ein netter Mensch mit netten Gedanken.

Am liebsten wäre mir mit meiner Familien und den Freunden unverfänglicher Smalltalk. Ach hier hat sich ja gar nichts verändert. Du siehst ja immer noch so gut aus wie früher. Haha, hehe, hihi. Hoffentlich bleiben die Gespräche oberflächlich. Einfach ein paar nette Worte, sich gegenseitig ein wenig Honig ums Maul schmieren. Ihr fehlt mir so, voll vermisst. Die alten Zeiten, ey so cool. Gehen war echt schwer, aber es musste sein, war eine rein persönliche Entscheidung, hat nichts mit euch zu tun, wir haben uns doch immer verstanden. Die Schleimerei wird dann mit einem dicken Zuckerguss garniert. Karlsruhe ist knorke, ich gehe total auf. Die Stadt gefällt mir, habe viel nette Leute kennengelernt, natürlich niemand so nettes wie dich. Hab mich sogar verliebt. Und dann dürfen natürlich auch die Pläne, die sowieso nicht eingehalten werden fehlen. Oh ja, musst mich bald mal besuchen. Mal schauen, ob ich mit solchen Larifari-Sätzen durchkomme.

Ach, was sollen die Gedanken! Es wird schon werden. Wenn ich mir überlege, was ich in den letzten Wochen überstanden habe. Welchen Gefallen ich der Menschheit alleine gestern getan habe. Ich bin ein moderner Robin Hood.

Hier im Bus habe ich definitiv zu viel Zeit zum Nachdenken. Was soll ich die ganzen Stunden auch machen? Entspannen kann ich knicken, dazu misstraue ich den Fremden zu sehr. Lesen ist in der Theorie immer unterhaltsam, aber bereits nach kurzer Zeit öden mich die meisten Bücher an wie ein Stummfilm.

Ich frage mich, warum ich überhaupt so nervös bin. Warum soll ich mir wegen solchen Nichtigkeiten wie ein paar Wiedersehen einen Kopf machen?

Auch wenn mein Leben scheinbar kein Ende hat, ist es zu kurz für diese miesen Gedanken. Schluss damit. Ich habe mich weiterentwickelt. Meine Freunde und Bekannten beneiden mich garantiert. Ich war so mutig, durch halb Deutschland zu reisen und einfach so wegzuziehen. Und die versauern immer noch dort, wo sie sind. Bestimmt sind sie eifersüchtig auf mich. Ich habe niemandem in einer nebligen Nacht im Stich gelassen. Ich habe gewagt und gewonnen.

Befehl an mich selber: Nur noch an mich denken. Ich bin ein Biest und ein Monster.

Anna gibt auch keinen Mucks von sich. Nicht mal diese Ablenkung habe ich. Die könnte mir doch wenigstens virtuelle Gesellschaft leisten… aber Funkstille. Sie könnte doch wenigstens antworten. Diese Fahrt ist langweilig wie Käse, das kann sie sich doch denken.