22. September, 22 Uhr 28

Ich bin gerade schweissgebadet die Türe rein. Was zum Teufel habe ich mir nur gedacht? Was ist denn nur mit mir los? Ich kann mir nicht mehr trauen. Ich habe mich verändert, ich bin unberechenbar geworden. Für mich.

Nachdem ich mich von Anna verabschiedet habe, bin ich noch schnell in die Innenstadt gefahren. Dort habe ich meine Stullen, meinen Käse, Wasserflaschen für die Fahrt sowie Wein, Pralinen und Schokolade für Oma und Mama gekauft.

Mit halbvollem Rucksack wollte ich mir noch ein paar Kilometer die Beine vertreten, da ich morgen fast 9 Stunden im Bus hocken muss. Das Gepäck quasi als Gewichte, war das Work-out nicht von schlechten Eltern.

Der Heimweg hat mich die Kaiserstraße herauf geführt, dabei ging es erst am Kronenplatz, dann am Berliner Platz vorbei. Wie sollte es anders sein: Auf dem Heimweg bin ich meinem alten Freund, dem kleinen Halbstarken begegnet. Es war fast das gleiche Spiel wie beim ersten Treffen. Der Unterschied: Ich war alleine.

Seine Schicht war scheinbar vorbei, genug Zeug getickt. Er wohnt ja bei mir in der Gegend, unsere Wege haben sich gekreuzt, als er vom Berliner Platz auf die Kaiserstraße abbog… direkt in meinen Laufweg. Er hat was gemurmelt, ich hab was zurück gemurmelt. Er irgendwas von Mongo, ich irgendwas von Lutscher. Es war dämmerig, die Straße war leer. Der Verdacht, dass ich gleich abgezogen werde, hat meine Ohren zucken lassen wie bei einer Katze.

Vorsichtshalber habe ich meinen Rucksack abgezogen, in die Hand genommen. Ich wollte nicht überrumpelt werden. Er lief vorne, ich hielt ein paar Meter Abstand, war aber zu stolz, einen anderen Weg einzuschlagen. Schließlich wollte ich mich von so einem Lutscher nicht einschüchtern lassen. Er dreht sich ein paar mal um, stellte sicher, dass ich ihm noch folgte.

Dann haben sich meine Armhaare aufgestellt. Vorahnung. Er blieb stehen, kramte in seiner Hosentasche. Ich dachte mir nur: Alles klar, gleich ist so weit. Hinter mir habe ich ein Geräusch gehört. Kurzschlussreaktion.

Die Gedanken sind gefunkt: Mist, nein nicht mit mir, ich muss morgen pünktlich los.

Im Affekt (so nennt man das doch) habe ich dem Typen eine Rotweinflasche über den Schädel gezogen. Er ist zusammengeklappt, als hätte ich den Stecker herausgezogen und seine Stromzufuhr wäre abrupt unterbrochen. Ich drehte mich um, wollte dem Angreifer von hinten die gleiche Medizin verschreiben…

Eine menschenleere Straße. Kein Komplize, kein Radfahrer, kein Auto. Ich musste mir das Geräusch eingebildet haben.

Dann hat es weiter gefunkt: Mist, tot.

Ich sah seinen vollgestopften Geldbeutel vor meinem inneren Auge. Meine Gier hielt mich davon ab, sofort zu flüchten. Es war eine Gelegenheit, die ich nutzen musste. Ich schaute mich um, einmal rechts herum gedreht, einmal links herum gedreht: Immer noch niemand da. Ich legte die Rotweinflasche zurück in den Rucksack.

Kohle.

Also hab ich seine Taschen durchsucht. Gar nicht so einfach, wenn man sich über die linke Hand den Ärmel gezogen, und über die rechte eine Einkaufstüte vom Feinkostladen wie einen Handschuh gestülpt hat, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Ich zitterte, war grob. Wäre ich religiös hätte, ich wohl ein schlechtes Gewissen wegen Leichenschändung, dachte ich aus irgendeinem Grund. Hose: Volltreffer! Ich habe in den Taschen seinen Geldbeutel gefunden, zusätzlich noch ein paar einzelne Geldscheine. Ich war im Goldrausch, im Geldfieber. Die linke Jackentasche war gefüllt mit Drogen: Gras und irgendwelche Tüten. Geistesblitz: Wenn ich die mitnehme, sieht es bestimmt aus wie eine Tat zwischen Dealern. Also ging der Stoff auch mit.

Ich hörte eine Straßenbahn anrattern. Rucksack zu, Fersengeld geben. Aber nicht rennen! Das zieht Blicke auf dich! Als ich ein paar Meter entfernt war, fing der Halbstarke an zu stöhnen und zu gurgeln, so als würde seine Seele den Körper verlassen. Es waren schreckliche Laute. Dann bin ich eilenden Schrittes und durch schlecht beleuchtete Gassen zurückgeeilt. Habe den kürzesten Weg gewählt, der keine belebten Straßen einschließt.

Die Taktik ging, glaube ich, auf. Ich habe niemanden gesehen, falls mich jemand gesehen hab, sollte ich nicht weiter auffällig gewesen sein. Zum Glück sehe ich so langweilig aus. Einfach ein Typ, der einkaufen war. Den merkt man sich doch nicht, oder?

Haustüre aufgeschlossen, Hände gewaschen. Dann kam der erste Schock und mit ihm die Zweifel. Ist er tot? Was wenn er noch lebt? Erkennt er mich wieder? Dann weiß er, wo ich arbeite. Dann heißt es entweder Polizei oder Vergeltung. Ich spielte mentales Tennis. Tu ich es? Tu ich es nicht. Ich machs. Nein, ich kann nicht.

Die Schreiberei gerade war meine Bedenkzeit. Die Entscheidung ist gefallen. Ich kenne nur einen Weg aus der Misere.

Und nun? Ich muss es tun. Mir sind die Hände gebunden wie einem Sträfling.

Die Badewanne ist voller Wasser. Der neue Föhn, der ersetzte Toaster liegen daneben. Den Dreifachstecker nehme ich jetzt mit.

Ich tu es.

Fast vergessen… Abschiedsbrief: Ich bin ein Lutscher!