Ich bin ausnahmsweise nicht im Kiosk. Gestern war so ein mieser Tag, da wollte ich nicht schreiben. Aber ich glaube, es tut mir ganz gut, wenn ich hier meine Gedanken und Erlebnisse fest halte.
Der Arbeitstag im Kiosk war total nervig. Es hat nichts geklappt, ich hab falsch rausgegeben und muss den Minusbetrag nun begleichen. Das waren 12 Euro soundso. Bei meiner miesen Bezahlung und der daraus resultierenden finanziellen Lage ist das richtig übel. Dafür muss ich bald 2 Stunden arbeiten. Man kann es mir kaum verübeln: Da war die Stimmung im Keller.
Mittags wurde es auch nicht besser. Meine Mutter hat angerufen. Ich wollte eigentlich nicht rangehen. Entgegen des Instinktes, einfach durchklingeln zu lassen, bin ich doch drangegangen. Was ein Fehler!
Das Gespräch war schlimm. Meine Mutter hat mir etliche Vorwürfe gemacht. Ich glaube, dass sie sogar ne Liste vor sich liegen hatte. Sie hat reichlich Ärger angestaut und heute den Dampf abgelassen. Ich war nach dem Gespräch richtig sauer.
Ich musste ganz schön schlucken, das waren mit die längsten 42 Minuten meines Lebens. Es fing harmlos an, aber dann hat sie sich reingesteigert und mich mächtig runtergeputzt. Die Baustellen waren unter anderem:
– Deine Oma ist so enttäuscht von dir, sie fühlt sich verlassen, weil Opa auch tot ist.
– Du hast uns im Stich gelassen, wir haben so viel für dich getan und jetzt sehen wir den eigenen Sohn nicht mehr.
– Du hättest Alex noch ne Chance geben sollen, ihr hättet einfach mal Kinder kriegen müssen, dann wäre das gar nicht erst passiert.
– Du hast deine Karrierechancen ruiniert, weil du gekündigt hast.
– Deine Zukunft ist im Norden, du wirst da unten doch sowieso nicht glücklich.
– Je früher du aufgibst und wieder zurückziehst, desto weniger Schaden hast du angerichtet.
Das tat schon ziemlich weh. Jetzt bin ich so weit weg und so isoliert und bekomme trotzdem noch einen auf den Deckel.
Ich habe nach dem Telefonat nochmal nachgedacht. Vielleicht war die Trennung von Alex nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich bin weg, weil ich unglücklich war. Weil mich mein Leben in Bremen richtig genervt hat. Da war die Trennung nicht der Auslöser, sondern der Anlass zu gehen. Der Job hat keinen Spaß gemacht. Die Beziehung war auch ohne Fremdgehen nicht mehr das Wahre. Wir haben aneinander vorbeigelebt. Blieben zusammen, weil wir schon ewig zusammen waren. Meine Familie sah ich kaum, und wenn, hatten wir uns nichts zu sagen. Bei meinen Freunden war es das gleiche Spiel. Eigentlich nur noch Freunde, weil man sich schon ewig kennt, einen große Gemeinsamkeiten nicht mehr vereinen. Ich bin an all den Situationen sicher nicht unschuldig. Ich habe einfach so vor mich hin gelebt. Einfach hingenommen wie es ist, ohne jemals für irgendwas zu kämpfen.
Was soll ich tun? Hier bin ich von der Gegenwart enttäuscht. Nun bin ich weg, aber nach der Ansprache will ich auch nicht zurück. Weil die Vergangenheit so enttäuschend war, dass ich der Zukunft misstraue.
Ich werde mir garantiert nicht den berühmten dummen Spruch von irgendjemandem anhören: Hab ich doch gleich gesagt, dass das nichts wird.
Ich habe keine Lust, mich schon wieder mittags hinzulegen, da verpasse ich den ganzen Tag und liege nachts wach. Das hab ich vorgestern gemacht und verpennt wie ich war, konnte ich nicht richtig rechnen.
Mann, Mann, Mann. Ich kann stolz auf mich sein. Ich habe etwas riskiert! Ich lasse mich nicht runterkriegen. Die können mich in Bremen alle mal!
Den ersten Schritt gegen Trübsal blasen habe ich vorhin schon getan: Raus aus der Wohnung. Ich bin an die frische Luft, endlich mal wieder raus aus der Bude und rein ins Leben. Ich habe mir meinen Statusbericht mitgenommen. Offensichtlich. Hier in der freien Wildbahn muss ich mir eingestehen, dass Tagebuch schreiben eben doch peinlich ist. Ich spekuliere darauf, dass es wie eine wissenschaftliche Arbeit aussieht. Ich schreibe gerade im Stadtgarten. Mein Handy hab ich daheim gelassen. Das hält mich davon ab, mich in die virtuelle Parallelwelt zu flüchten – zwangsweise. Stattdessen muss ich mich (mehr oder weniger, schließlich lenke ich mich ja hier auch ab) der Realität stellen.
Es ist gutes Wetter, alles grün, gespickt mit schönen Farben, denn es blüht noch ein bisschen. So ist das Leben, wenn sich andere entspannen: Enten, Gänse, Schwäne und Vögel werden gefüttert. Hier fährt sogar eine Bummelbahn durch den Park. In diesen Grünanlagen ist total viel los. Kein Wunder, ist auch richtig idyllisch. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich hier Fehl am Platz. Das schwarze Schaf, das graue Mäuschen. Überall liegen Leute, Studenten, Freigeister und Familien, auf ihren Decken. Es wird gelacht, getrunken und gespielt. Unglaublich, wie die Stimmung steigen kann, nur weil man an der frischen Luft und unter Sonne ist.
Da kann jemand wie ich nur neidisch werden. Ich komm mir vor wie ein Vampir. Total ungewohnt dieses Tageslicht und diese Menschenmassen.
Meine Güte bin ich eine Heulsuse. Weinerlich sein bringt mich auch nicht weiter, oder?
To-Do-Liste für heute: Mit dem Abnehmen anfangen, also geh ich noch weiter spazieren. Richtigen Job finden, also schau ich heute Abend mal die Stellenanzeigen durch, schreib Bewerbungen. Und zu guter Letzt die sonnige, positive Einstellung. Setzen wir die Theorie mal in die Praxis um.
Ich merke, wie ich mich sträube, einfach aufzustehen. Meine inneren Widerstände sagen mir, dass ich sitzen bleiben soll und weiterschreiben… oder noch besser: wieder zurück in die Wohnung. Da hätte ich meine Glotzbox, könnte was essen und mich hinlegen.
Ich muss mich überwinden. Aufstehen! Ich mache hiermit einen Vertrag mit mir selbst: Ich werde nun eine Runde durch den Park drehen. Alle Leute grüßen und junge Frauen ansprechen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
Das kann doch nicht so schwer sein. Gesprächsstoff wird sich finden. Ich bin neu in der Stadt, ich werde fragen, was man hier so machen kann. Ein bisschen Smalltalk muss sogar ich schaffen. Darin bin ich nach der Arbeit im Kiosk doch geübt. Im schlimmsten Fall kann man über das Wetter sprechen. Da gibt es immer etwas zu meckern.
Ich wünsche mir viel Erfolg. Glück brauchen die, die scheitern möchten.