19. Dezember, 16 Uhr 38

Ich saß vorhin am Computer. Er fuhr gerade hoch. Die alte Kiste lässt sich dabei immer mehr Zeit, also lehnte ich mich zurück. Mein Blick glitt über die Wand, geistesabwesend musterte ich die Decke, plötzlich zuckte mein Kopf Richtung Fenster.

Ich sah Blaulicht. Es spiegelte sich an der Fassade vom Haus gegenüber. Sofort der innere Monolog der Beruhigung: Ohne Sirene ist es kein Notfall. Vergebens. Der Dialog begann: Notfall ohne Sirene heißt, sie wollen mich überraschen. Ich saß in der Falle. Jetzt war es soweit. Ich verfluchte sie alle, am meisten mich selbst. Ich rannte zum Fenster, habe es aufgerissen und geschaut, welche Einsatzstärke mich erwarten würde.

Es war ein Krankenwagen. Die Entspannung wollte sich nicht einsetzen, denn die Sanitäter wollten in unser ins Haus. Es klingelte auch schon. Mit der Neugier kam der Mut.

Ich drückte den Türöffner. Wie es wissbegierige Nachbarn so tun, bin ich raus auf den Hausflur. Ich wollte wissen, wer sich da wohl den Schädel eingeschlagen hat. Polternd nahmen sie eine Stufe nach der anderen. Die ersten Wohneinheiten waren nicht betroffen. Es war niemand im Erdgeschoss, auch keiner im ersten Stock. Mich hat die Sensationslust gepackt. Vielleicht ist es jemand auf meinem Stock? Dann bekomme ich eine Show geboten. Ich habe mich in den Türrahmen gestellt. Mit angewiderten Blicken sind die zwei Sanitäter an mir vorbei. Ich bin mir sicher, dass ich ihre Gedanken lesen konnte: Du gaffendes Schwein! Schäm dich!

Aber das tat ich nicht. Ich war an der Reihe meine Nachbarn zu belauschen, die taten das sicher oft genug bei mir. Ich war kurz davor, ihnen zu folgen, doch dafür hätte ich meinen Schlüssel holen müssen. Eine dritte Person kam die Treppe hoch. Schritte hallten, eine laufende Nase wurde ständig hochgezogen. Das war ein Zwiespalt: Abwarten, wer genauso unverschämt wie ich ist oder schnell den Schlüssel holen, um zu sehen, in welcher Wohnung sich das Drama abspielt?

Hochgehetzt kam eine Frau um die 50. Als ich sie sehen konnte, krächzte sie: „Halt! Isch mach uff.“ Einen Wohnungsschlüssel hielt sie demonstrativ hoch, streckte ihn der Welt entgegen wie ein Schiedsrichter die rote Karte. Die vielen Stufen legten ihren miserablen Fitnesszustand offen. Die vielen Kuchenstücke, die sie sich sicher nachmittags gönnt, haben sich zu einem echten Hindernis beim Treppensteigen summiert. Genug spioniert, nun war auch ich in Eile. Wo ist dieser blöde Schlüssel nur? Den finde ich nie, wenn ich Zeitdruck habe. Da wird meine Wohnung zu einem Osterfest der Schweissausbrüche. Ich wollte kein Risiko eingehen. Statt Zeit mit der Suche nach meinem Schlüssel zu verlieren, hatte ich eine schnellere Lösung: Socken ausgezogen und als Türstopper missbraucht.

Ich holte nicht mehr auf. Die Frau bekam wohl einen zweiten Wind, wollte die Männer nicht warten lassen. Als ich ankam, war die Tür nicht nur aufgeschlossen und die Sanitäter bereits drinnen. Die Tür sah ich nur noch zuschlagen. So stand ich im Flur. Barfuß, nervös und ängstlich. Zwei Worte, ein Gedanke: Bitte nicht!

Vergangene Sekunden wurden zu gefühlten Minuten, und diese waren eine Ewigkeit.

Endlich: Die Dame öffnete die Tür. Es war eine Frau, die ich nie kennenlernte, die mir jetzt aber vertraut war. Sie wirkte im Vergleich mit dem Bild, an dem ich so oft vorbeigegangen war, eher wie eine Oma als eine Mutter. Sie schaute mich fragend an. Ich wagte es nicht, meinen Namen zu sagen, verschwieg, wer ich bin: „Frau Behrens, was ist denn passiert? Frau Behrens, ich bin ein Freund!“

Sie: „Sie isch tot. Die Anna isch tot.“