14. September, 22 Uhr 29

Langsam muss ich hier schreiben, um Druck abzubauen, nicht um mir die Zeit bei der Arbeit zu vertreiben. Der restliche Arbeitstag war wie gewohnt. Es kam die gewohnte Mischung ans Kiosk. Ein paar Graue, ein paar Bunte. Viele bekannte Gesichter, ebenso viele Unbekannte.

Zuhause habe ich endlich mal geputzt. Voll positiver Energie habe ich dann gegen Mittag noch bei meinen Eltern angerufen. Die Unterhaltung mit Mama war anfangs unterkühlt. Mit steigender Verbindungsdauer kam die mollige Wärme zurück. Bei mir wäre alles im Reinen, und sonst noch ein wenig erzählt. Während des Gesprächs habe ich mich gefragt, ob Mutter oder Vater ähnlich gepolt sind wie ich. Womöglich liegen im Keller meines Elternhauses Leichen. Wobei… dort habe ich ja lange genug gewohnt, toten Seelen bin ich nicht begegnet. Aussprechen konnte ich die Gedanken natürlich nicht. Eine galante Überleitung ist mir ebenso wenig eingefallen, den Wink mit dem Zaunpfahl hat meine Mutter übersehen. Ich habe schließlich gemeint, dass ich letztens an meinen Autounfall denken musste. Dass ich dabei eigentlich hätte sterben müssen. Aber nur Hannes, der Fahrer, und Sven, der im eigentlich sicheren Rücksitz saß, umgekommen sind. Ob ihr oder Papa mal was ähnliches passiert ist? Mama: „Nee, du…“ Gefolgt von einem Stoßgebet, dass es auch so bleiben soll, Herr im Himmel. Dann bin ich eben der einzige Suizidkönig, in der letzten Zeit habe ich mich mit Schockierenderem abgefunden.

Ansonsten gab es halt die übliche Schnackerei. Sie hat mir ein paar Updates über die Zustände der Familienmitglieder, engeren Familienfreunden und den anliegenden Nachbarn gegeben. Wie das so ist, wenn man weit entfernt ist: Das, was sie heftig findet, klingt aus weiter Ferne nichtig. Ihre Nachbarn bauen eine Garage an. Die ist zu groß, zu protzig. Das Bauen dauert bestimmt ewig, prophezeite sie. Es ist laut, es stört die Landschaft und überhaupt hätte niemand meine Mutter gefragt. Ich dachte nur: Komm mal nach Karlsruhe, da wäre so eine Baustelle ein Segnen. Hier wird an jeder Ecke die Straße aufgerissen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, versuchte ich den Autounfall zu rekonstruieren. Gar nicht so einfach, wenn man in den grauen Zellen nach Erinnerungen, die über 5 Jahre zurückliegen, suchen muss. Der Unfall war nachts, wir waren zu fünft im Auto. Wir waren vorher auf einer Party gewesen, sind mit der Bahn zurück zu Hannes gefahren. Dort wollten wir einen kurzer Zwischenstopp einlegen – irgendwas essen, irgendwas trinken. Nach kurzem Aufenthalt saßen wir im kleinen Dreitürer von Hannes. Wir waren auf der Landstraße unterwegs. Navid wollte unbedingt in einen Club: Vida Loca, eine typische Großraum-Disco.

Ankommen sind wir dort nie.

Ich sah das Auto kommen, zuckte zusammen, spannte meine Muskeln an und erwartete den Aufprall. Die Scheinwerfer waren aus, Hannes hatte keine Chance auszuweichen. Es gab einen Frontalzusammenstoß mit dem anderen Fahrzeug. Das Auto von Hannes sah vielleicht aus. Es war ein einziger Trümmer. Hannes ist direkt an der Unfallstelle gestorben. Der Fahrer des anderen Autos ebenfalls. Sven, der hinter mir saß ist in der Nacht verstorben. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, war er bereits tot. Navid und ich hatten Prellungen, Brüche, Schürfwunden und was man sich sonst noch zuzieht, wenn man Crash-Test-Dummy spielt.

Aus dem Krankenhaus wurde ich nach ein paar Tagen entlassen. Navid musste einige Wochen dort bleiben. Die Mitarbeiter waren erstaunt, dass ich dermaßen Glück hatte und meine Heilung so schnell verlief. Die Ärzte ahnten damals so wenig wie ich. Gerade die hätten es doch herausfinden müssen. Mit meinen neuen Erkenntnissen stellt sich die Sache in einem anderen Licht dar. Ist Sven an meiner Stelle gestorben? Es musste so sein…

Ich saß noch ein paar Minuten da, habe mir den Kopf zerbrochen, wann ich Sven zuletzt berührt haben könnte. Aber es hat sich der Nebel der Vergangenheit über meine Erinnerung gelegt. Die Antwort: kein blasser Schimmer.

Grübeln bringt einfach nie etwas, ich habe aufgegeben und mich wieder der Gegenwart gestellt.

Nachdem ich einen der glimpflicheren Familienanrufe hinter mir hatte, habe ich mich noch mit Anna verabredet. Nach den ganzen Gedanken über Tod und Vergänglichkeit dachte ich mir: Wenn schon, denn schon. Zur Freude des Tages habe ich Anna zum Essen eingeladen. Die Einladung war nicht ausschließlich aus der Güte meines Herzens. Meine eigennützige Theorie: Wenn sie irgendwo ist, wo sie noch nie war, müsste sie doch die Klappe halten?! Ein bisschen würde mir schon reichen. Wenn sie schweigt, sieht sie so gut aus.

Nach ein paar Mails hin und wieder zurück wie bei Bilbo Beutlin, kam sie dann auf das Restaurant Arbeitsbank. Hat kürzlich eröffnet, liegt unweit von den Wohnungen, passt also für ein spontanes Date. Menü und Beschreibungen lesen sich im Internet ganz nett. Es ist eher gehobene Mittelklasse, das Preis-Niveau meine ich. Bei meiner finanziellen Lage ist das nahe an der Obergrenze. Da man sich ja sonst nichts gönnt…

Nach den üblichen Haushaltserledigungen (inklusive Sport!) haben wir uns am frühen Abend getroffen. Der Laden, hat für meinen Geschmack ein etwas gewolltes Design. Die Preise und das Ambiente ziehen offensichtlich eine Kundschaft vom Schlage Personaler, Lehrer und Beamte an. Dementsprechend fehl platziert fühlte ich mich. Es war mir zu bieder. Dort dominiert Holz, verziert ist es mit altem Werkzeug und der Tresen, wer hätte es gedacht, erinnert stark an eine Arbeitsbank. Service, Essen und alles waren gut, konnte man bei einer Rechnung von 60 Euro auch erwarten. Mir wurde wieder klar: Es nicht so mein Ding von Fremden bedient zu werden. Aber Anna war Feuer und Flamme, hat immer schön höflich und in bester Jetzt-sage-ich-ein-Gedicht-auf-Stimme mit dem Personal kommuniziert. Ein typischer Gastronomie-Fan eben. Ich war den Abend über charmant. Hab ihr Komplimente gemacht, wo es ging. Meinte schließlich dass es gut schmeckt, aber ihr Essen gestern viel besser war. Sie sollte ein Restaurant eröffnen. Anna und ich haben uns gut verstanden. Wäre auch unverschämt gewesen, wenn ich sie ausführe und sie mir zum Dank die Hölle heiß macht.

Anna hat irgendwann nach dem Hauptgericht eine Pause eingelegt. Ich konnte sehen, wie die Murmeln in ihrer Birne klimperten. Ich dachte nur: Was kommt jetzt?

Die Antwort: Anna macht Nägel mit Köpfen. Sie hat mich allen Ernstes auf den Geburtstag ihrer Mutter eingeladen. Sie meinte, dass es dort ganz locker wäre. Kein richtiges Familienessen, ganz ungezwungen, dann könnten mich die Leute halt mal kennenlernen. Ich hoffe, ich konnte meinen Schock halbwegs verbergen. Sie mit kindlicher Stimme: „Ich würde mich so freuen, wenn du mitkommst. Es ist aber schon in ein paar Tagen. Wäre wirklich toll, wenn du kannst.“ Damit hat sie mir wenigstens eine Rettungsleine gereicht, ob sie es bemerkte oder nicht. Ich hab gut reagiert, denke ich. An dieser Stelle vielen Dank an den Braumeister: Die zwei Bier haben die Zunge gelockert. Ich: „Das wäre echt nett, ich muss mal schauen, wie ich Zeit habe.“ Sie meinte bevor wir aufbrachen nur noch, dass sie derzeit unter Stress steht wegen irgendwelcher Hausarbeiten und Prüfungsvorbereitungen. Ich habe ihr gut zu geredet. Tschaka, du schaffst es!

Warum dann passiert ist, was passierte, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht war es, weil ich nicht sofort bei dem Geburtstag zugesagt habe. Kaum hatten wir das Restaurant verlassen, kaum waren wir alleine, ging es los. Der Heimweg war eine einzige Szene. Meine Frage, was denn jetzt los sein, konnte sie natürlich nicht beantworten. Laut der Meckerziege waren es viele kleine Dinge, die sie „jetzt einfach mal loswerden“ müsste. Sie meinte, dass ich unhöflich zu unserer Bedienung gewesen wäre. Die war auch Modell Überaltert: verbrauchte, lederne Haut, die raucht bestimmt, einen unglücklichen Körper, lange Brüste und einen Hintern, den man mit einem verlängerten Rücken vergleichen könnte. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn männliche Geste etwas schroffer werden. Aber war ich das überhaupt?! Dann hätte ich angeblich noch ein Mädchen (die gute Frau war sicher jenseits der 30) am Nachbartisch angeflirtet, um Anna eifersüchtig zu machen. Und überhaupt müsste sie jetzt noch so viel lernen. Ich bin zum Glück nicht darauf angesprungen, habe ihr versichert, dass es nicht so war. Aber Anna war wohl in Streitlaune. Sie hat nach irgendwelchen Strohhalmen gegriffen: Ich würde sie nur ausnutzen. Wäre es nicht so dumm gewesen, hätte ich wohl auf offener Straße gebrüllt.

Der Heimweg war zum Glück kurz. In Einverständnis haben wir den Abend dann beendet. Ich frag mich, warum sie so launisch war. Frauen und ihre Gefühle halt. Darum bin ich jetzt wieder zuhause.

Sollte ich heute im Schlaf von der Decke erschlagen werden, wird Anna verschont. Ich habe eine neue Person im Speicher. Auf der Haustreppe bin ich einer Frau begegnet, die gerade runterging. Die junge Dame habe ich schnell gestreift. Zum Glück tragen Frauen bei diesen Temperaturen kurz: keine Ärmel. Die hat sich nicht mal erschrocken. Es kam nur ein Laut von dieser dummen Kuh: „Häää?“ Ich: „Entschuldigung, hab sie gar nicht gesehen.“ Um die wäre es nicht schade, sie sah so blöd aus, dass sie mich nervös machte. Der Typ Mensch, der immer den Mund offen stehen lässt. Ihre Augen sahen so leer aus, dass hinter der Schädeldecke maximal eine Erdnuss liegen kann.

Ich bin kurz davor mich umzubringen, nur damit die Welt ein wenig schlauer wird.