10. November, 16 Uhr 12

Heute Nacht hatte ich einen Panikanfall inklusive Schweißausbruch. Leben ohne Anna, isoliert und einsam.

Da Anna immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, habe ich ihr heute früh eine Mail geschickt. Das sind leider Nebenwirkungen, wenn der Rausch ausklingt – eine Mixtur aus Bedrückung, Sorgen und Ängsten. Es wäre schade, wenn es das mit uns jetzt gewesen wäre. Die Mail war freundlich und nicht so fordernd. Ich fragte, ob wir uns nicht vertragen sollen. Meinte, dass es mir leid tut. Eben all der Honig, Zucker, Süßstoff und Stevia, den man einer beleidigten Frau so ums Maul schmieren kann.

Ansonsten der Schnelldurchlauf von gestern. Kronenplatz: lief. Isy: will mal wieder was machen. Soll mir recht sein, Ablenkung ist willkommen. Chef: „Habse mich nicht vergessen.“

Im Paket waren ein paar nette – und nicht so nette – Überraschungen: Socken (naja), Postkarte (soll mich mal wieder bei meinen Eltern melden) und eine Handvoll Feinkost-Sachen. Ich war schon etwas genervt, doch ganz unten im Paket fand ich das Wichtigste. Das Geld, dass ich mir leihen wollte. Ich hab geschrieben, dass ich eine neue Grafik-Software bräuchte. Die beiden haben davon keine Ahnung, daher dürfte sie der Betrag auch nicht gewundert haben. Ich mein, ein gutes Programm kostet halt seinen Tausender. Sehr schön: Sie haben nicht geschrieben, wann ich das geliehene Geld zurückzahlen soll. Vielleicht vergessen sie es sogar. Alles in allem war es ein guter Tag wie bei Ice Cube, jetzt habe ich wieder ein wenig finanziellen Spielraum.

Mein Vormittag: Ich habe ein bisschen getrunken und entspannt. Ich war zufrieden mit mir und der Welt, daher wollte ich mich für einen Schlummer nach dem Essen hinlegen. Kaum hatte die Beine ausstreckt, schellte es an der Tür. Ich zuckte zusammen, in den letzten Wochen befürchte ich nur Schlechtes.

Mein erster Gedanke war, dass die Polizei geklingelt hat, dass sie mich jetzt abholen. Ich habe mich im Bett aufgesetzt wie der Untertaker. Gewartet und gelauscht, aber nichts gehört. Nach einer gefühlten Viertelstunde habe ich mich beruhigt. Habe mir sanft eingeredet, dass es bestimmt nur irgendein Vertreter war. Schreckhaftes Zucken. Dann hat es nicht nur geklingelt, sondern auch geklopft.

Mein Herz schlug schneller. Ich musste herausfinden, wer das ist. Also bin ich aufgestanden, ganz langsam auf meinen Socken Richtung Wohnungstür gerutscht als wäre ich ein Eiskunstläufer. Bin Meter für Meter nach vorne gegleitet, habe einen Bogen um den Bereich im Boden gemacht, der gerne quietscht. Mit genügend Sicherheitsabstand zur Tür – damit niemand den Schatten meiner Füße sehen kann – habe ich mich zum Spion vorgebeugt. Kein guter Zug.

Anders, ich weiß, dass du durchs Guckloch schaust.“

Es wurde schattiger, dunkler. Schockstarre. Ein Gesicht beugte sich vor meinen Türspion. Jetzt war es sowieso zu spät, ich lehnte mich ganz vor.

Entwarnung! Mit Ulli wartete ein harmloser, alter Bekannter vor der Tür.

Ich stand da, in kurzer Hose, T-Shirt mit Ketchupflecken und einer Fahne wie vor der amerikanischen Botschaft. Ich war eindeutig nicht in der Verfassung Besuch zu empfangen.

Ich: „Sorry Ulli, keine Lust auf Schwatzen.“

Er: „Ich bleibe nicht lange.“

Ich donnerte ein paar Gemeinheiten durch die Tür, doch er ließ sich nicht abwimmeln.

Er: „Anders, ich mache mir Sorgen, weil du nicht mehr arbeitest. Deine Kollegen haben mir nur deine Adresse genannt. Ich will nichts Schlimmes, nur sehen, dass es dir gut geht.“

Ich öffnete die Tür, steckte den Kopf dazwischen, so wie es Anna bei mir tat. Diese abweisende Geste musste Bände sprechen. Ich erklärte Ulli, dass ich mich nicht gut fühlte. Dabei holte ich ein bisschen aus, damit er schneller wieder verschwand: Überfall, Job, Geldprobleme, Beziehung, mir wird alles zu viel und nichts klappt.

Es wirkte. Wir haben ausgemacht, dass ich ihn in den nächsten Tagen besuche.

Ich war zwar erleichtert, dass es keine Polizei war, aber durch die ganze Aufregung konnte ich nicht mehr schlafen. Es passte mir gar nicht, dass ich Ulli nun besuchen musste. Ich musste meinen Frust abbauen. Da geteiltes Leid halbes Leid ist, nahm ich mir ein Beispiel an Ulli: Und bin hoch zu Anna. Dort habe ich geklingelt, geklingelt, geklopft.

Ich in vorwurfsvollem Ton: „Ich weiß, dass du da bist. Hast du meine Mail nicht gekriegt?“

Sie, brummend durch die Tür: „Doch. Anders, ich kann das heute nicht. Ich schreibe morgen meine Sprachreflexion-Prüfung.“

Ich gebe es zu, mit dem nächsten Spruch wollte ich ihr einfach nur die Stimmung versauen. Auf die Frage, wie es Veronika geht, ob sie gut gelernt hat, antwortete sie verwirrt: „Äh, ja, die ist immer gut vorbereitet.“

Die blöde Veronika sollte doch tot sein. Meine Enttäuschung habe ich mir nicht anmerken lassen. Ich ermahnte mich, dass mir Veronika egal sein muss. Ich, geflunkert: „Ich wollte dir nur schnell viel Glück wünschen! Ich hoffe, dass bei dir alles in Ordnung ist.“

Danach ihr Paukenschlag: „Danke. Ja, mir geht es ganz gut, aber die Helene ist gestorben.“

Ich hörte sie schluchzen. Es war ganz leise, aber ich sog es auf wie ein Staubsauger. Dieses Zeichen der Schwäche musste ich zu meinen Gunsten nutzen. Mir fiel nichts Gutes ein. Die Chance auf Trösten plus mehr schätzte ich als verschwindend gering ein. Also habe ich sie kurzerhand gefragt, ob sie mir ein bisschen Geld zum Einkaufen leihen kann. Ich meinte, dass ich dann nicht mehr zur Bank müsste.

Ein Ausatmen mit langgezogenem, melodramatischem Ohhh.

Nach einer halben Minute hat sie die Tür geöffnet.

Ich habe sie mit meinem breitesten Grinsen angestrahlt, während sie mir einen Geldschein in die Hand drückte. Bevor ich gegangen bin, habe ich sie noch wenigen ihrer Freundin ausgefragt und ein wenig getröstet. Als sie die Tür wieder zuzog hat sie ihre Augen verdreht. Sie dachte bestimmt: Typisch Anders, dieser Schlawiner. So bin ich mit 20 Euro in der Tasche und ein paar Pluspunkten wieder runter.

Es ist klar: Helene war ein Fehler. Sie war das grüne Feld beim Roulette. Sie wurde nicht miteinkalkuliert. Mir eigentlich auch egal, Helene war bestimmt eine Null. Helene ist, nein war, so eine graue Maus, dass ich mich gar nicht erinnern kann, dass sie mit Veronika unterwegs war. Mitgehangen, mitgefangen.