Meine gute Tat wurde direkt belohnt. Vielen Dank, Karma. Du hast dich postwendend revanchiert.
Ein gutes Gefühl muss Wunder für das Selbstbewusstsein wirken. Oder ich war durch das fehlende Blut so leicht im Kopf, dass ich ein neuer Mensch war.
Jedenfalls: auf dem Heimweg vom Krankenhaus bin ich der süßen, blonden Anna begegnet. Sie war gleich am Anfang offen. Entgegen aller Erwartungen also nicht irgendwie abgeschreckt von mir. Das Problem mit unserem Treffen auf der Party konnte ich direkt aus der Welt schaffen. Ehrlich währt am längsten, dachte ich mir. Ich habe ihr erklärt, dass ich schon länger nicht mehr weg war. Sie fand es dann gar nicht mehr so schlimm, dass ich mir den Mut antrinken musste, um alleine zu der Feier zu gehen. Sie meinte, dass sie das auch nie nüchtern gemacht hätte. Da war das Eis gebrochen. Keine Panik auf der Titanic.
Wir schnackten ein bisschen. Sie sagte, wo sie eigentlich herkommt. Aus Mainz. Dann haben wir ein paar Belanglosigkeiten über Karlsruhe ausgetauscht. So ein bisschen dies und das angesprochen. Sie studiert hier, und die Stadt gefällt ihr „voll gut, die Leute sind voll nett.“
Den eigentlich Knaller verdanke ich der Blutarmut im Selbstzweifelzentrum. Überraschenderweise, glücklicherweise ist aus mir herausgesprudelt, dass ich sie „voll toll finde. Schon vom ersten Blick an sympathisch.“ Sie nannte mich darauf einen alten Schleimer. Ich meinte: „Bei so was würde ich nie lügen, sogar ich hab meine Grenzen.“
Dann das schönste Geräusch, das ich seit Ewigkeiten gehört habe: Annas bezauberndes Lachen.
Nadel von der Schallplatte, Schluss mit der Musik. Das abrupte Ende vom Geplänkel kam postwendend: Sie musste leider weiter.
Doch der gute Anders war trotz Blutarmut hellwach. Ich habe die Gunst der Stunde genutzt, sie nach ihrer Nummer gefragt… und bekommen. Sie lächelte mich an und sagte: „Klar, wieso nicht?“ In mir jubelte ein kleiner Mann, sprang und klatschte vor Freude. JA! JA! JA! Lady Gaga wäre stolz auf mein Pokerface, denn ich hab keine Freudentränen geweint. Ich hab aber immer noch dieses dümmliche Grinsen zwischen den Backen.
Sie wollte mir also ihre Nummer geben. Ich Depp hatte kein Handy mit. Der kleine Mann fluchte: Sie hat es eilig, Idiot. Ich bin in eine langgezogene Denkpause verfallen. Kann ich mir so viele Ziffern merken. Ich muss es versuchen, obwohl ich im Auswendiglernen nie gut war. Anna war pfiffiger: Sie notierte ihre Nummer, riss mir einen kleinen Fetzen aus ihren Unterlagen. Sie meinte nur noch, dass sie jetzt aber los müsste, weil sie zu einer Lerngruppe verabredet ist. Anna mit demonstrativem Blick auf die Uhr: „Ich bin schon voll spät.“ Sie winkte mir beim Umdrehen zu und ging los.
Das kleine Stück Papier, auf das sie ihre Nummer geschrieben hat, ist im Augenblick mein wertvollster Besitz. Es könnte die Fahrkarte in eine rosige Zukunft sein.
Normalerweise würde ich ja zur Feier des Tages zu Ehren der süßen Blonden ein kühles Blondes köpfen. Aber dann befinde ich mich mitten in meiner gewohnten Abwärtsspirale und werde mir im Laufe des Abends wohl vollends die Kante geben. Es muss doch auch etwas Produktiveres zu tun geben.
Die alten Damen, die mir im Krankenhaus begegneten, erinnern mich an meine Oma. Da heute wirklich vieles gut lief, versuche ich mich auch mal an dieser Baustelle. Das ist auf alle Fälle besser, als mir wieder ein paar Liter Bier hinter die Binde zu kippen.
Wegen des Telefongesprächs mit meiner Mutter sehe ich mich nicht in der Verfassung, mit meiner Großmutter ein womöglich ähnliches Telefonat zu führen. Lösung: Ich werde ihr einen Brief schreiben. Das ist schön altmodisch, darauf müssen alte Eisen stehen.
Schreiben hat einfach seine Vorteile. Da kann ich meine Gedanken besser artikulieren. Sätze, die während einer Unterhaltung raus rutschen könnten, überdenken, dann zensiert kommunizieren. Durch die viele Übung sollte es zügig von der Hand gehen. Von ein paar Handkrämpfen hier und da mal angesehen, macht Schreiben ja auch Spaß.
Was ich Oma schreiben werde? Hmm. Ich denke, dass ich in die Offensive gehe, und die meisten der Punkte und Vorwürfe meiner Mutter anspreche. Vielleicht gewinne ich sie mit meiner Sicht der Dinge sogar auf meine Seite. Wünsch mir Glück, liebes Tagebuch.