17. November, 18 Uhr 27

Meine Gedanken kreisten gestern Nacht wirr, wild, laut und aufdringlich wie Krähen über Häusern. Ich war zu aufgebracht, um einschlafen zu können. Es ist auch zum Verrücktwerden: Nicht nur dass Anna mir einiges vorgeworfen hat. Mir ging noch mehr durch den Kopf: Die Angst erwischt, für die Morde weggesperrt zu werden, beschäftigte mich. Als ich mir versichert habe, dass mich niemand entdecken kann, kamen wieder die Geldsorgen: Es ist immer zu wenig und so schnell weg.

Ich wüsste gern mal, wo meine Kohle immer landet. Wobei, da kommen schon einige Ausgaben zusammen: Schulden, Getränke, Einkäufe. Ich machte mich verrückt wegen der Miete. Mein Konto ist abgegrast, wie wenn eine Schafherde zu Besuch war. Dann fing ich an zu überlegen, wie ich Geld beschaffen könnte. Noch ein Auftrag vielleicht? Ob ich ein Inserat ins Dark Web setzen sollte? So weit war ich in Gedanken bereits! Zum Glück hat mich die zweite – oder vielleicht schon die dritte – Schlaftablette schließlich ausgeknockt.

Für heute beschloss ich, dass Grübeln niemanden weiter bringt. Dazu braucht man Ablenkung. Also entschloss ich mich, Ulli den versprochenen Besuch abstatten.

Ich wollte mir die Option offen halten, schnell wieder abdampfen zu können wie Kuchen auf dem Fensterbrett. Mein Hintertürchen: Sollte sich nichts Gravierendes geändert haben, würde Ulli mittags wieder Enten füttern. Der Gedanke dabei war: Wenn ich ihn vorher treffe, kann ich entscheiden, wie lange der Besuch wird. Ob ich mit zu den Enten oder nach hause gehe, kann ich von der Situation abhängig machen. Schließlich will Ulli seine Enten nicht versetzen. In seiner Welt erwarten die Tiere ihn, sind hungrig und wollen gefüttert werden.

Ich habe ihn vormittags, direkt nach dem Aufstehen, angerufen. Ulli hatte Zeit, also bin ich kurz nach dem Telefonat dort aufgetaucht. Es war wie erwartet: Er wollte ein „bisschen“ reden. Bisschen ist bei ihm, was sehr, sehr, sehr viel bei mir ist.

Ich meinte, dass es mir so weit gut geht, aber das Schicksal übel mitspielt. Dass sich Anna verändert hat. Ich mir nicht sicher bin, sie nicht zu viel trinkt und andere Tabletten schluckt. Ich habe Ulli gefragt, ob das überhaupt noch eine Beziehung ist. Er redete mir gut zu, sagte, dass es nur eine Hürde ist. Wir redeten dann allgemeiner. Über Probleme, die menschlichen Gefühle und kamen auf verschiedene Krankheiten. Dabei stellte sich heraus, dass auch ihm etwas auf der Seele lag. Er sieht mich mittlerweile wohl auch als Freund.

Also habe ich den sinnbildlichen Ball der Gesprächsführung zu Ulli geworfen. So machen die das bei den Stuhlkreisen doch immer. Ulli musste während seiner Ausführungen mit den Tränen ringen. Irgendjemand in seiner Familie ist krank. Ulli überlegt, ob zurück in den Osten ziehen soll, damit er da helfen kann. Es scheint etwas Ernstes zu sein, die Person hat wohl sonst niemanden. Die Immobilienpreise sollen sehr gut sein. Dann strich er die Welt wieder rosarot: Er könnte sich ja ein Häuschen im Grünen kaufen und einen Ententeich anlegen. Er erklärte, dass er seine Finanzen sondiert, seine Ersparnisse sortiert hat. Es sollte reichen. Da wurde ich hellhörig. Ich musste ihn unterbrechen, damit ich wieder in Ballbesitz war.

Ich habe an meinem Kaffee genippt. Anfangs beiläufig, dann immer ausschweifender, von meinem finanziellen Engpass erzählt. Die Welt ist wirklich unfair zu mir. Ich tue so viel für die Menschheit und muss mich mit derart trivialen Problemen herumschlagen. Dass der böse Chef mich rausgeworfen hat, weil ich krank war. Dass ich mir nicht sicher bin, ob ich die Miete überhaupt zusammen gekratzt bekomme. Ohhh, wie es mich belastet. Ich habe die Tränendrüse nicht nur gedrückt, sondern gequetscht: „Könntest du mir vielleicht was…“

Da unterbrach er mich auch schon. Er wollte wissen, in welchen Dimensionen wir schweben. Ich musste ins Schwarze tippen, hoffen, dass ich knapp unter seiner Schmerzgrenze lag: „Ich hatte an ein paar hundert Euro gedacht.“ Er blickte nach unten, seine Finger spielten hektisch miteinander. Es war offensichtlich, dass ihm die Entscheidung schwer fiel.

Er musste noch Brot für seine Enten schneiden. Ohne Antwort verabschiedete er sich in die Küche. Den Versuch war es wert, dachte ich mir. Ich stand ebenfalls auf, wollte mich gerade verabschieden, als ich instinktiv stoppte. Ich war reglos, während Ulli in der Küche lärmte. In der Glastür seiner Vitrine sah ich sein Spiegelbild, wie es einen Küchenschrank öffnete. So weit nicht weiter interessant, aber ich beobachtete ihn dennoch. Als er eine Salatschleuder aus dem mittleren Fach holte, hielt ich den Atem an. Da er seinen Enten wohl kaum trockenen Blattsalat mitbringen wollte, wurde ich neugierig. Er hob den oberen Teil ab, fummelte in der Schüssel und legte etwas auf die Küchenplatte.

Ich ging lautlos ein paar Schritte in den Raum, beugte mich vor, um mit dem Kopf auf der Höhe des Türrahmens der Küche zu sein. Schaute von rechts nach links. Statt dem Spiegelbild sah ich nun den Rücken von Ulli und das, was er aus der Schüssel geholt hatte. Es waren Geldscheine. Das ist sein Versteck. Das sind seine Ersparnisse.

Genug gesehen: Ich schlich mich zurück auf die Couch. Tat so, als würde ich die Fernsehzeitschrift studieren. Nach weiterem Lärm kam Ulli aus der Küche und überreichte mir 500 Euro. Mit erhobenem Zeigefinger: „Aber das kriege ich bald wieder, ne Anders?!“ Ich nicke so übertrieben mit dem Kopf, dass eine Dehnübung sein könnte. Nach seiner Frage, ob ich mit zu den Enten will, schüttelte ich nicht ganz so wild mit dem Kopf.

Er meinte nur noch, dass er sich noch frisch machen will und dann losgeht. Um ihm Zeit zu ersparen, bot ich ihm an, unsere Tassen in die Küche zu räumen. Widerworte nicht gewollt: „Kannst schon ins Bad, Ulli. Ich zieh dann einfach zu.“ Wenn mir Ulli schon Geld lieh, konnte ich ihm wenigstens behilflich sein.